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Eduard Trier: Emil Cimiotti. (1961, für “Junge Künstler 61/62”, Verlag M. DuMont Schauberg, Köln)
In der gekachelten Backstube eines Stuttgarter Vorstadthauses, halb unter der Erde gelegen, hat Emil Cimiotti sein Atelier eingerichtet. Der Raum ist eng und nicht sehr hell. Durch die Milchglasscheiben sieht man schemenhaft die Beine der Vorübergehenden. An die Wände sind Studienzeichnungen und Notizen geheftet. Halbfertige Modelle warten auf den Fensterbänken. Der kleine Tisch, an dem Cimiotti mit dunklem Modellierwachs und Metallstäben hantiert, steht vor dem Backofen, dessen nutzlos gewordene Mechanik das einzige Pittoreske in diesem sonst nüchternen Arbeitsgehäuse ist. Diese knappe Milieuskizze scheint mir notwendig zu sein, um das Schaustellerische, mit dem Künstler oft umgeben werden, von vornherein auszuschalten. Das Abenteuer der Künstler zeigt sich nicht im Dekor oder Habit, sondern in den Prozeduren des bildnerischen Schaffens.
Emil Cimiotti, geboren in Göttingen, begann vor etwa zehn Jahren an der Stuttgarter Akademie bei Otto Baum, also bei einem Bildhauer der festen naturhaften Körperformen im Sinne Brancusis oder Arps. Gleichzeitig wird ihm Willi Baumeister, der in Stuttgart einen Kreis um sich sammelte, Anregungen gegeben haben. Wahrscheinlich kam von Baumeister auch der entscheidende Anstoß, daß Cimiotti sich nach ersten gegenständlichen Figuren, meist Köpfen oder männlichen Akten, der Abstraktion zuwandte. Dies geschah jedoch nicht von heute auf morgen. Zwischen den naturnahen Arbeiten des Jahres 1949 und dem Wiederbeginn mit neuer Aufgabenstellung lag ein ganzes Jahr Pause, und auch dann wurde das Grundmotiv der plastischen Arbeit Cimiottis, von dem nachher die Rede sein wird, noch nicht für dauernd angestimmt. Es gab Einschübe, verursacht von den Erlebnissen anderer Lehrer, die beispielsweise 1953 unter dem Einfluß Karl Hartungs wieder zur Beschäftigung mit figürlichen Problemen führten. Von diesen ersten Versuchen ist wenig erhalten, einiges nur im Foto dokumentiert. Der Rückgriff, von dem die stark vereinfachte Figur eines „Sitzenden“ zeugt, blieb Intermezzo. Entscheidend wurde jetzt, was Cimiotti bereits 1950 begonnen hatte: Plastiken mit zwei unabhängigen Massenzonen.
Formal ließe sich eine dieser frühen Arbeiten etwa so beschreiben: eine Gruppe von drei oblongen, gerundeten, dicht zusammenstehenden Körpern, über denen auf dünnen, kaum wahrnehmbaren Stangen drei ähnliche, schlankere Körper in derselben Gruppierung schweben. Das Faktum des „Tragens“ ist zwar nicht zu leugnen, wird aber optisch als „Schweben“ gedeutet. Was mir dabei als wesentlich und fundamental vorkommt, ist das equilibristische Spiel mit zwei korrespondierenden Massenvolumina - die Überwindung der Schwerkraft an sich, wie sie auch in der utopischen Architektur (vgl. U. Conrads/H. Sperlich, „Phantastische Architektur“) beobachtet werden kann, oder in bildhauerischen Begriffen ausgedrückt: der Kampf mit dem Sockel. Cimiotti versucht, mit konkret-materiellen und räumlich-immateriellen Formen zu neuen plastischen Fakten zu gelangen. Das ist sein „Leitmotiv“, dem wir wieder begegnen werden.
Verfolgen wir zuerst den Werdegang Cimiottis an Hand einiger früher Werke. Sein Ausgangspunkt tritt in der Figur eines Stehenden (Tafel 7) in Erscheinung. Bei diesem Versuch, den Aufbau des menschlichen Körpers in selbständigen Rhythmen neu zu „organisieren“, wird das Vorbild Ossip Zadkines nicht unbeteiligt gewesen sein, obwohl Cimiotti - vermutlich in einer Abwehr des wuchernden Formenreichtums seines letzten Lehrers - sich um starre Architektonik und Beschränkung auf wenige lapidare Elemente bemüht. Die nächste Plastik (Tafel 2) kündigt schon deutlich die künftige Arbeitsweise an. Das bislang vorherrschende Körpervolumen wird aufgelockert, geöffnet und reicher in den Einzelgliedern. Außerdem erscheint ein neues kompositorisches Motiv: die Figurengruppe. Cimiotti nennt die kleine Bronze „Familiengruppe“, ein nicht ungewöhnliches, in der Nachkriegsplastik etwa auch bei Moore oder bei Armitage vorkommendes Thema, dem Cimiotti aber eigene formale Lösungen abgewinnt. In der folgenden Plastik (Tafel 3) gelangt Cimiotti über dieses Stadium hinaus. Wachsen ist das Motiv des neuen Gebildes, das zwar pluralistisch als „Figuren“ bezeichnet wird, das aber ebenso als vegetative Form zu Assoziationen mit Busch- oder Wurzelwerk anregt. Noch einmal stellt sich hier die Erinnerung an Zadkines Labyrinthe ein, die Cimiotti um so freimütiger entgegennehmen kann, als seine folgenden Arbeiten an Selbständigkeit von Form und Inhalt nichts zu wünschen übriglassen.
1958 hat Cimiotti nicht nur sein Instrument in der Hand, er weiß auch, was er will. Eine Bronze (Tafel 4) entfaltet sich in schnellen Rhythmen nach oben und in die Tiefe. Sie öffnet sich weit und vielfältig dem Außenraum, ohne sich deswegen in der eigenen körperlichen Existenz aufzulösen. Öffnen und Schließen, festes Ruhen und flatternde Bewegung, das Spiel von Licht und Schatten lassen die Plastik wie ein Lebewesen atmen, wobei wir wiederum mit der Ambivalenz der Formen von menschlicher und pflanzlicher Ableitung konfrontiert werden.
Während Cimiotti die quicklebendige Unruhe der im folgenden Jahre entstandenen Plastik (Tafel 5) wieder zu regelmäßig geschichtetem, fast ornamentalem Rhythmus ordnet und in den dichten, unmittelbar aus dem Boden sprießenden Formen das aktionslose vegetative Dasein vorstellt, greift er kurz darauf das Thema der bewegten Figurengruppe (Tafeln 6 und 7) von neuem auf. Beide Plastiken lassen an zusammenströmende Menschen, an die gestikulierenden Chöre eines dramatischen Auftritts denken. Das Individuum ist in diesen Gruppenkompositionen nicht mehr unterschieden oder wahrnehmbar; es wird von der vielgliedrigen Menge aufgesogen. Cimiotti beläßt jedoch die Figurengruppe nicht im Zustand der Addition von Einzelteilen; er zwingt vielmehr die Menge zur formalen Einheit. Seine Gruppen haben einen Körper, sie agieren gleichsam wie ein Mann.
Strebt die eine Figurengruppe (Tafel 6) in diagonaler Bewegung einem Ziel zu, wobei ihr der ausgeprägte Richtungscharakter eine besondere dramatische Bedeutung verleiht, schließen sich die Formen der anderen Version des Themas (Tafel 7) eng zusammen. Ihre Bewegung drängt sowohl nach innen als nach oben. Gemeinsam ist beiden Plastiken das formale System der Öffnung und Verschränkung, die als Kontrastmittel aber so ausgewogen sind, daß keines die Oberhand gewinnt. Innenraum und Transparenz werden spürbar, aber ohne die körperliche Existenz der Plastik aufzulösen. Hierin begegnet uns wieder die Absicht Cimiottis, sich nicht auf eine einzige Definition, sei sie formaler oder inhaltlicher Art, festzulegen. Daher muß konsequenterweise bei der vorhin versuchten Deutung der Plastiken (Tafeln 6 und 7) zugegeben werden, daß außer der Möglichkeit, sie als „Menschen“ zu lesen, auch andere Lesarten vorhanden sind, wie sie sich etwa in der verwandten Zeichnung (Textabbildungen S. 63 und 65) mit ihrem stärker abstrahierenden Charakter anbieten. Das Stipendium der Deutschen Akademie in Rom, das Cimiotti 1959 für längere Zeit in eine fremde Umgebung verpflanzte, löste in seiner Imagination bereits vorher erwogene Ideen zu neuen Formationen aus. So erklärt sich Cimiottis unmittelbare Reaktion auf das andere Milieu, die vielleicht bei einem Bildhauer erstaunlich ist, weil ihm die allgemeine Auffassung an sich nur eine langsame Entwicklung zubilligt. Bei Cimiotti, der in „schnellem“ Material arbeitet, sind jedoch grundsätzlich andere Voraussetzungen gegeben, die seine spontane Reaktion auf dem Fleck verständlich und notwendig machen.
Unkonventionell wie seine Methode im Sinne einer orthodoxen Bildnerei sein mag, ist auch das Thema der römischen Arbeiten: Cimiotti wandte sich der Landschaftsplastik zu. Um dies richtig zu verstehen, ist eine genauere Definition notwendig. Es gibt in der Plastik die Landschaft als Attribut, etwa in der Abbreviatur des Grasnarbensockels oder des Baumstumpfes für Statuen, oder als abbildlichen Landschaftsausschnitt im Relief. Daneben gibt es die Möglichkeit, die Landschaft selbst plastisch zu gestalten, wie es im Barock geschah oder in der japanischen Gartenkunst (zum Beispiel bei Noguchi) heute noch üblich ist. Diese überlieferten Kategorien gehen Cimiotti nichts an. Er hat die Landschaft selbst zum Inhalt seiner Plastiken bestimmt - die Landschaft nicht nur in den Formationen der Erdoberfläche, sondern auch mit den treibenden Wolken darüber (Tafel 8). Das ist neu, überraschend, ja ungewöhnlich, denn nach der herkömmlichen Auffassung erlauben es die Mittel der Plastik nicht, Landschaft darzustellen oder abzubilden. Es steht außer Frage, daß Cimiotti nicht die Landschaft im Sinne eines Landschaftsporträts abbilden will. Aber darstellen will er sie wohl! Er will ihre Struktur heraustasten, ihre konkrete Körperlichkeit und ihre Räumlichkeit. Letzteres ist, wie sich der Leser erinnern wird, ein frühes Thema Cimiottis gewesen, das wir in einem Beispiel beschrieben haben. Die beiden Massenzonen, die zwischen sich eine oder mehrere Raumzonen bilden, erscheinen auch in der Plastik „Felsen und Wolken“, diesmal aber nicht in der Formelhaftigkeit abstrakter Körper, sondern in der lebendigen Form des Erfahrenen und Erschauten. Wiederholen wir dabei noch einmal das Leitmotiv Cimiottis, die wechselnde Metamorphose von menschlichen zu vegetativen Formen, so tritt hier die Alternative des „Natürlichen“ entschiedener vor unser Auge.
Cimiotti hat einmal geschrieben: „Titel sind für mich nicht unwichtig“. Das Eingeständnis wird nicht nur durch die vorhin betrachtete Plastik bestätigt, sondern auch durch die andere Arbeit aus der römischen Periode, die „Inselbewohner oder anderes“ (Tafel 9). Hier deutet schon der Werktitel das Sowohl-als-Auch, das Transitorische der Bedeutung an fremdartige Inselbewohner wie aus Gullivers Reisen, exotische Vögel oder breitblättrige Pflanzen? Die letzte Bedeutung bleibt im Sinne der Romantik (wie Cimiotti selbst einsieht) fraglich, und sie darf offen bleiben, weil es sich nicht um Illustrationen aus einer Natur- geschichte handelt, sondern um Kompositionen der Massen- und Raumvolumina von der allgemeinsten poetischen Bedeutung. Das Bedeutungsvolle im wahrsten Sinn des Wortes ist dabei keineswegs von mir hineingesehen worden. Der Künstler selbst wies in einem Brief an den Verfasser darauf hin, seine Plastiken seien „komplexe Gebilde, die sich nicht im Formalen erschöpfen sollen“, und an anderer Stelle schrieb er auch von der „beabsichtigten Vieldeutigkeit“.
Die Tatsache also, daß Cimiottis Plastiken vieles bedeuten oder - wie man ruhig sagen sollte - darstellen, scheint mir ein gewichtiges Argument gegen die Gefahr der formalistischen Wiederholung zu sein, mit der heute viele Künstler zu kämpfen haben. Sie ermutigt Cimiotti immer wieder, sich eine neue Aufgabe vorzunehmen, ohne die Erfahrungen der letzten zu vergessen. Seine jüngsten Arbeiten, „Landschaft I“ und „Vulcano II« (Tafeln 10 und 11), entwickeln offensichtlich die kompositorischen Möglichkeiten, die in „Felsen und Wolken“ (vgl. Tafel 8) verwirklicht worden waren, konsequent weiter. Wieder sind es Landschaftskonstruktionen mit „Schwerpunktbildung“, in denen dem Sockel - freilich einem Sockel als integriertem Teil der Plastik - eine bedeutendere Rolle zuerteilt wird als vorher. Das immaterielle Raumvolumen hat maßstäblich an Bedeutung verloren. Die Öffnungen der Körper sind geringer geworden. Dagegen werden die Positionen, die die einzelnen hochgezogenen Satellitenkörper - seien es „Baumwipfel“ einer Landschaft oder „Rauchwolken“ eines Vulkans oder wie in den letzten Arbeiten die anthropomorphen Figurationen „ Atlas“ und „Priapos“ - einnehmen, wichtiger, ja entscheidender für das Komplexe dieser Bronzen.
Cimiotti ist selbst der Meinung, daß er in seinen neueren Arbeiten „in Frage gestellte Volumen“ geschaffen habe - also nichts Definitives, Dauerndes, wie es der Kanon der Bildhauerkunst vorschreibt, sondern Dinge im Werden, im Ungewissen, in der Verwandlung, im Wachsen und Vergehen. Die Bronze verliert den Charakter des Festen. Die von ihr geformten Volumina sind blasig. Sie scheinen sich atmend zu bewegen, und sie sind dabei so dünnhäutig, daß sie mehr enthüllen als verbergen, also sogar das Massive in Frage stellen. Auch hier, in diesen Landschaftssymbolen, werden sich Deutungen anbieten, die über die erschaute Szenerie hinausgehend die tellurischen und kosmischen Kräfte unserer Welt zum Inhalt haben. Es ist wohl kein Zufall, daß Cimiottis Landschaften des Jahres 1960 meist vulkanischer Natur sind, auch wenn sie nicht ausdrücklich so benannt werden. In den Eruptionen der Formen tritt die Genesis einer Urlandschaft bildlich in Erscheinung.
Das Thema der Metamorphose, das wir in Cimiottis Arbeit wiederholt beobachten konnten, ist der Bildhauerkunst nicht fremd, obwohl sie nach ihren überlieferten Gesetzen als „Grenzfall“ gilt. Erinnert sei hier an das klassische Apoll- und Daphnemotiv, dem Bernini in seiner berühmten, aber umstrittenen Marmorgruppe Gestalt verliehen hat! Ihr Problem ist, daß Plastik in den historischen Kategorien (die mobile Plastik des 20. Jahrhunderts sei beiseite gelassen) ein Faktum, einen Zustand herstellt, nicht aber ein sich Wandelndes. Sie kann im Grunde nur einen Interimszustand im Prozeß des Umwandelns festhalten, nicht aber die Verwandlung selbst in all ihren Phasen. Wenn Cimiotti sich trotzdem der sisyphosartigen Aufgabe einer transitorischen Plastik unterzieht und versucht, sie mit seinem Instrumentarium zu bewältigen, so beweist dies zumindest eines: daß er sich seine Sache nicht leicht macht und bis zu den vorgeblichen „Grenzen“ seiner Kunst vorstößt. Die Mittel, die er dabei anwendet, sind Differenzierung der Oberfläche, Multiplizierung ähnlicher, aber nicht gleicher Einzelformen, tiefe räumliche Staffelung mit dem resultierenden Spiel von Licht und Schatten, Vielfalt der Bewegungsrichtungen und Vielansichtigkeit der Gruppenkompositionen. Sie bewirken bei der geringsten Blickpunktveränderung, daß die Plastik sich zu regen und zu leben beginnt.
Nach all dem Gesagten ist es kein Wunder, daß Cimiotti sich mehr als jeder andere Bildhauer für das Daphnethema interessieren mußte. Es war ihm gleichsam auf den Leib geschrieben, und es bedurfte nur des Anstoßes, um ihm Gestalt zu geben. Cimiotti hatte das seltene Glück, daß ihm die Figur einer Daphne in Auftrag gegeben wurde. Monatelang hat er sich damit beschäftigt. Von den Stationen seiner Arbeit zeugt der Bildbericht der Entstehung eines Werkes (Tafeln 12-14), der statt einer „abschließenden“ Würdigung unseren Betrachtungen ein vorläufiges Ende setzt. Zwei dieser Studien (Tafeln 12 und 13) haben sich inzwischen als erdhafte Figurationen verselbständigt. Sie mußten aus dem Entwicklungsgang zur Daphne ausgeschieden werden, weil sie wohl nur einen einzigen Aspekt des Mythos verdeutlichten. Aber die letzte entscheidende Fassung (Tafel 14) ist ganz vom Geist der Daphne erfüllt. Zwang die zauberische Verwandlung der vor Apollons Gier fliehenden Daphne in einen Baum in den historischen Darstellungen zu illusionistischen Gewaltlösungen mit dem „Entweder“ von menschlicher Haut und dem „Oder“ der borkigen Rinde, so ist Cimiottis „Daphne“ beides und zu gleicher Zeit: sie ist Mensch und Baum, Erde und Himmel, Flucht und Wurzelschlagen, Symbol des Mythos und plastisches Faktum unserer Zeit. In ihrer Komplexität und Vieldeutigkeit überwindet sie das für den Bildhauer fatale Problem des Transitorischen, ohne dabei ihre eindeutige Zeitgenössigkeit zu verlieren.
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