Emil Cimiotti
 von Christoph Zuschlag

Struktur und Prozeß
Plastiken von Emil Cimiotti in der Marktkirche zu Hannover, 2004

I.
Wenn ein zeitgenössischer Künstler wie Emil Cimiotti eingeladen wird, seine Werke in einer Kirche zu zeigen, dann wirft dies die Frage auf, wie es denn um das Verhältnis von Kunst und Kirche und um das Verhältnis von Kunst und (christlicher) Religion in Geschichte und Gegenwart bestellt ist. Historisch betrachtet, ist die religiöse Funktion bis zum Zeitalter der Aufklärung die vorherrschende Aufgabe der Kunst gewesen. 1 Der weitaus größte Teil der überlieferten Kunstwerke ist, auch wenn wir ihnen heute in neutralen Museumsräumen begegnen, religiös bestimmt – ungeachtet der Tatsache, daß die Bilderfrage eine uralte Streitfrage des Christentums ist, die im 8. und im 16. Jahrhundert zu verheerenden Bilderstürmen geführt hat. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren Architekten,  Maler und Bildhauer fast ausschließlich im Dienst von Kirche und Feudalstaat tätig. Die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Umbrüche am Ende des I8. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also an der Schwelle zur Moderne, die sich in der Französischen Revolution, der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der Säkularisierung manifestierten, bewirkten eine tiefgreifende Veränderung der Funktion von Kunst und des Künstlerstatus. Die Künstler waren nun zwar von ihren alten Bindungen und Abhängigkeiten befreit, zugleich aber auch ihrer bisherigen Existenzgrundlage beraubt. Das nun anbrechende bürgerliche Zeitalter proklamierte die Unabhängigkeit des Künstlers und die Autonomie der Kunst. Dies führte zu einer weitreichenden Entfremdung der Künstler von Kirche, Staat und Gesellschaft - und umgekehrt.
Im 20. und 21. Jahrhundert  läßt sich das Verhältnis von Kunst und Kirche, das Verhältnis von Kunst und (christlicher) Religion nicht mehr auf einen Nenner bringen. Vielmehr lassen sich gleichermaßen Nähe und Distanz feststellen. Während auf der einen Seite autonome religiöse Kunst entsteht und es auch nicht an bedeutenden Werken der bildenden Kunst fehlt, welche im Auftrag der Kirche geschaffen wurden und werden, gibt es auf der anderen Seite heftige Kritik und Ablehnung der Künstler gegenüber der Kirche sowie mitunter auch Unverständnis und Zurückhaltung der Kirche gegenüber den Künstlern. Indes ist die prinzipielle besondere Beziehung zwischen Kunst und Religion unstreitig: „Kunst und Religion treffen sich im Begehen existentieller Grenzen.“ 2 Unstreitig scheint mir ebenso, daß in der zeitgenössischen Kunst vielfach Ahnungen von Transzendenz und Spiritualität spürbar werden, die keineswegs auf ein christliches Verständnis festgelegt sind. Daher ist die Aufnahme zeitgenössischer Kunst in Kirchen - sei es dauerhaft in Form von Ausstattungsstücken wie liturgischem Möbiliar, sei es temporär in Form von Ausstellungen - ausdrücklich zu begrüßen. Erinnert sei hier an die Ausstellung der Evangelischen Kirche zur Expo 2000, die unter dem Titel „Lost Paradise Lost - Kunst und sakraler Raum“ in 13 Kirchen Hannovers stattfand, so auch in der Marktkirche. Von Emil Cimiotti war dort die Plastik „Kniende“ (Abb. S. 25) zu sehen, die auch Bestandteil der jetzigen Ausstellung ist.

II.
Nun also die Werke von Emil Cimiotti im rechten Seitenschiff der Evangelischen Marktkirche (Georgii et Jacobi) zu Hannover. Wie werden die Plastiken, die allesamt weder im engeren Sinne christliche Themen behandeln noch für eine Präsentation im Kirchenraum geschaffen wurden, in der spätgotischen, 1943 schwer beschädigten und nach dem Krieg wiederaufgebauten dreischiffigen Hallenkirche zur Wirkung kommen? Wie werden die Bronze der Plastiken und der unverputzte Backstein des Kircheninneren zusammenklingen? Wie werden die Werke unseres Zeitgenossen die Wahrnehmung der Architektur und der historischen Ausstattungsstücke (des spätgotischen, farbig gefaßten Schnitzaltares im Hauptchor, der ebenfalls spätgotischen, reliefierten Taufbecken in den beiden Nebenchören, der Glasgemälde in den Chorfenstern bis hin zur Bronzetür von Gerhard Marcks aus dem Jahr 1959) beeinflussen - und umgekehrt? Wird der Pfarrer in seiner sonntäglichen Predigt darauf eingehen? Wie werden die Gläubigen und die Touristen aus aller Welt auf die unerwarteten Werke Cimiottis reagieren? All dies wird sich nur vor Ort erleben lassen, aber eines ist sicher: Im Gesamtkunstwerk Marktkirche werden die Plastiken Emil Cimiottis eine besonders intensive Wirkung entfalten.

III.
Emil Cimiotti wurde 1927 in Göttingen geboren. Er ist also keineswegs Italiener, wie man immer wieder liest. Zwar ist der Familienname in der Tat italienischer Herkunft, doch die Vorfahren Emil Cimiottis wanderten bereits vor rund 250 Jahren aus Udine nach Deutschland ein. Als 17jähriger wurde Cimiotti 1944 zum Kriegsdienst einberufen, 1945 geriet er in Gefangenschaft. Nach dem Krieg absolvierte Cimiotti zunächst eine Lehre als Steinmetz, bevor er 1949 das Studium der Bildhauerei an der Staatlichen Kunstakademie Stuttgart bei Otto Baum und Karl Hils aufnahm. Es folgten kurze Studienphasen bei Karl Hartung in Berlin und bei Ossip Zadkine in Paris. In der französischen  Metropole, damals Zentrum der aktuellen Kunstentwicklung und Treffpunkt von Künstlern aus aller Welt, besuchte Cimiotti Constantin Brancusi im Atelier und studierte die Arbeiten von Alberto Giacometti und Henri Laurens, die einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Deutschen machten. 1954 kehrte er nach Stuttgart zurück, wo er in Kontakt mit Willi Baumeister stand.
1955 schuf Cimiotti erste Arbeiten in Bronze. Sein bildhauerisches und zeichnerisches Frühwerk wird dem Informel zugerechnet. 3 Nach anfänglicher heftiger Ablehnung durch die Kunstkritik erfuhr Cimiotti bald internationale Anerkennung: 1958 und 1960 war er auf der Biennale in Venedig vertreten, 1959 und 1963 auf der documenta in Kassel. Beteiligungen an bedeutenden Ausstellungen, unter anderem in Frankreich, Holland, Schweden, der Schweiz, den USA, Kanada und Brasilien, würdigten Cimiottis Beitrag zur informellen Plastik. 1957 und 1959 erhielt er den  Kunstpreis „junger westen“ -  einrnal für Bildnauerei, das andere Mal für Handzeichnung. 1963 folgte der Künstler einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Bildhauerei an die neugegründete Kunsthochschule Braunschweig, wo er bis 1992 lehrte. Heute lebt und  arbeitet Emil Cimiotti in Wolfenbüttel.

IV.
Die in der Marktkirche von der Evangelischen Regional- und Stadtakademie  Hannover veranstaltete Ausstellung umfaßt 16 Plastiken aus den Jahren 1958 bis 2002. Sie vermittelt einen repräsentativen Einblick in das vielfältige und reiche Lebenswerk des Künstlers. Der Titel der Ausstellung, „Strukturen“, umschreibt ein zentrales Gestaltungsprinzip Emil Cimiottis sowohl in der Bildhauerei als auch in der Zeichnung.
Bevor auf die Werkentwicklung eingegangen wird, ein Wort zur Technik. In der Plastik verwendet Cimiotti das uralte Wachsausschmelzverfahren. Dabei formt der Künstler aus Wachs ein Modell. Dieses Modell wird in der Gießerei mit einer feuerfesten Schamotteschicht ummantelt. Die Form wird nun gebrannt, so daß das Wachs darin flüssig wird und über Kanäle austritt (cire perdue). In die so gewonnene Negativform wird nun die glühende Bronze eingegossen. Ist die Bronze abgekühlt, wird die Schamotteummantelung zerschlagen. Das Werkstück, der Rohguß, liegt nun frei und wird von Cimiotti - im Gegensatz zu den meisten anderen Künstlern, die mit dieser Technik arbeiten - weitgehend in seinem Urzustand belassen. Bei dem Wachsausschmelzverfahren gehen also sowohl das Wachsmodell als auch die Ummantelung, die eigentliche Gußform, verloren. Folglich sind die so gewonnenen Plastiken stets Unikate. Das Wachsausschmelzverfahren ermöglicht es, den Arbeitsprozeß, die Spuren der formenden Hand bis hin zu den einzelnen Fingerabdrücken festzuhalten und dadurch eine Handschriftlichkeit zu fixieren, die der gestischen Malerei des Informel verwandt ist. Charakteristisch sind auch die rauhen, spröden, körnigen, schrundigen, wie verkrustet wirkenden Oberflächen mit unzähligen kleinen Buckeln und Mulden. Wichtig ist, daß am Anfang des Werkprozesses stets das von Cimiotti mit den Händen geformte Modell steht, wir sprechen deswegen im engeren Sinne von Plastiken (abgeleitet von griechisch plassein = bilden, formen) und nicht von Skulpturen (von lateinisch sculpere = schneiden, schnitzen). Letztere entstehen durch Abtragen bzw. Substraktion des Werkstoffes, meist Stein oder Holz.
Die frühen Plastiken Emil Cimiottis sind kleinformatig und von organischen, vegetabilen Formen bestimmt, die an Naturerscheinungen erinnern. Titel wie „Südliche Insel“ (Abb. S. 20) und „Der Baum“ (Abb.S. 21) unterstreichen diese Parallele zur Natur. Die Bronzen aus dieser Zeit sind keine geschlossenen Körper, sondern vielgliedrlge, offene, räumliche Strukturen, in denen der Künstler die Zwischenräume als plastische Elemente untersucht. „Räumliche Strukturen, das meint: Abfolge von z. B. Zellen, Waben, Kavernen - eben von spezifisch einander zugeordneten Räumen." 4 Auch wenn Cimiotti seine Einfälle und Ideen für Plastiken in kleinen Werkskizzen festhält, so entsteht die endgültige Form erst allmählich im  Arbeitsprozeß am Wachsmodell, also ungeplant, spontan, intuitiv. Der Schaffenssprozeß ist demnach im Hinblick auf das bildnerische Endresultat offen, was ein wesentliches Kriterium lnformeller Kunst lst. Dabei sind das Verhältnis eines jeden Details zum Ganzen sowie die Allanslchtigkeit der Plastik wichtig. Clmiotti hierzu: „Der Einfall zählt in der Plastik nur bedingt. Das endgültige Motiv will in der Arbeit gefunden und durchgehalten sein. Die spezifische Struktur einer Plastik muß sich in jedem Detail ausprägen. Jedes Detail muß sich in diese Struktur einfügen und muß trotzdem frisch und energisch bleiben, nicht nur aus einer Ansicht, sondern von allen Seiten und aus allen möglichen Blickwinkeln”. 5
Einen Höhepunkt der frühen informellen Werkphase Emil Cimiottis bildet die Zwei Meter hohe Plastik „Daphne“ (Abb. S. 17) aus dem Jahr 1961, die als Auftragsarbeit eines privaten Sammlers entstand, 1970 auf der Weltausstellung in Osaka gezeigt wurde und nun als Leihgabe der Skulpturensammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden nach Hannover kommt. Daphne ist in der griechischen Mythologie eine Nymphe, die auf der Flucht vor der Liebe des Apollon ihrer Mutter Gäa (Erde) in einen Lorbeerbaurn (griechisch dàphné = Lorbeer) verwandelt wird. Ovid schildert den Mythos in seinen „Metamorphosen“. Bei seiner Plastik ging Cimiotti, wie Christa Lichtenstern in ihrer eindringlichen, im  folgenden wiedergegebenen Analyse des Werkes gezeigt hat, „nicht von der Erzählung des Mythos aus, sondern von den Formimpulsen seines Werkes, in welchem der Daphne-Stoff, so wie er ihn verstand, bereits in vielen Bronzen latent anwesend war. [. ..] [In der“Daphne“-Plastik] erhebt sich über einem kleinen zugespitzten Sockelelement eine große Gesamtform mit annähernd ovoidem Umriß, aus der eine Fülle von Teilformen ausgestülpt werden. Diese gliedern sich ihrerseits in die erdigen, blasigen Aufwölbungen, die in anderen Bronzen „Vulkan“ oder
Berg“ Titel tragen, d. h. auf terrestrische Zusammenhänge verweisen und in die fragilen, abwehenden Form-Enden, die sich z. B. als Relikte einer vorangehenden „Baum“-Komposition von 1961 [Abb. S. 21] zu erkennen geben. So werden zwei dem Künstler bereits geläufige Formmöglichkeiten auf neue Weise miteinander verbunden. Er läßt „Daphne“  im Einzugsfeld von Erd- und Baumassoziationen erstehen. Sie ist gleichermaßen die Erde, die sie anruft, und ebenso auch schon der sprossende Baum. Menschliches wird nicht mehr wie im Modell von 1960 figurativ vergegenwärtigt, sondern klingt im absichtsvollen Ungefähr in der Bewegung, in der Torsion, an, mit der sich der gesamte obere Teil von der Sockelform wegbiegt. Cimiotti gelangt somit zu einer Daphne-Konzeption, die übereinstimmend mit seiner allgemeinen transitorischen Formensprache das Thema der Verwandlung aus den eigenen bildnerischen Mitteln heraus als prozessuales Geschehen absolut setzt“. 6
Um 1960 begann Emil Cimiotti  seine Arbeit gegen das Informel, das damals zur Mode verkam, abzugrenzen. In den 1970er Jahren tritt in formaler und inhaltlicher Hinsicht ein Wandel in der Kunst Cimiottis ein. Tod und Vergänglichkeit tauchen als Themen auf, gegenständliche Motive prägen die Plastiken. So in „Du und ich“ (Abb. S. 26), einer Plastik mit zwei Schädelformen oder in „lch denke an Alice“ (Abb. S. 23), einem hockenden menschlichen Gerippe. Knochenformen, Zivilisationsmüll und Blattformen begegnen uns in „Waldstück“ (Abb.S.29) und „Die Mahlzeit  ist zu Ende“ (Abb.S. 28). Hier bezieht Cimiotti Naturabgüsse ein, die freilich stark manipuliert sind: Die Blattformen sind abgegossene Blattunterseiten, die in der Plastik zu Oberseiten werden, was die Strukturen deutlicher hervortreten läßt. Mit dem neuen Naturalismus, der sich hier vermeintlich in der Kunst Cimiottis Bahn bricht, ist es bei genauerem Hinsehen nicht weit her: Die Knochen- und Schädelformen etwa haben mit anatomischer Richtigkeit nichts zu tun, sind vielmehr frei modellierte Gebilde. Die Grundthemen des plastischen Schaffens Cimiottis bleiben dieselben, sie werden nur an anderen Formkonstellationen erkundet. Neu hingegen sind die expliziten symbolischen Bezüge. Allerdings betont der Künstler „A!le meine Plastiken, auch die scheinbar ungegenständlichen, haben Inhalte. Alle meine Plastiken, auch die scheinbar realistischen, sind ganz abstrakt“.  7
1976 tauchen Spuren von Farbe in Cimiottis Plastiken auf. So notiert er im September 1976: „Habe erstmals eine Plastik bemalt. War zunächst sehr unsicher, habe häufig geändert, schließlich farbige Details belassen. Es kommen ganz neue Vorstellungen in Gang. Auch die Zeichnungen werden farbig. Farbe nicht als Zutat, sondern zur Vertiefung der Vorstellung“.  8 In diesem Jahr beendet der Künstler auch seine Arbeit an dem monumentalen
Ständehausbrunnen” im Stadtzentrum Hannovers (unweit der Marktkirche], dessen Motiv große Blattformen sind“.  9 Der Brunnen ist ein gewaltiger breitlagernd aufgeschichteter Strukturteppich, schreibt Eberhard Roters, ein „Dschungel aus Waben und Hohlräumen, der den Blick in sich hineinzuziehen versucht, in dessen Mitte das Auge aber nicht vorzudringen vermag. Nur die Dunkelheiten der Höhlungen und Zwischenräume, in die es blickt, vermitteln ihm eine Ahnung von der Tiefe seines Innern. Das Auge kann die Fülle des Wechsels nicht auf einmal fassen. Hinzu kommt die strudelnde Bewegung des Wassers, das im Wechsel der täglichen und jahreszeitlichen Lichtverhältnisse ein zusätzlich strukturauflösendes atmosphärisches Moment ins Spiel bringt.“ 10
In den 1980er Jahren ist es der menschliche Torso, der Cimiotti in mehreren großformatigen Plastiken beschäftigt, so in „Kniende“ (Abb. S. 25) und „Stauffenberg-Projekt“ (Abb. S. 24). In diesem Zusammenhang wäre auch die „Figur für Meister Gislebertus“ aus dem Jahr 1984 zu nennen, die als Leihgabe der Stadt Braunschweig im Braunschweiger Dom steht. Auch in diesen Werken ist die plastische Durcharbeitung weit von anatomischer Richtigkeit entfernt, scheint es primär um die Strukturierung und Rhythmisierung plastischer Elemente im Raum zu gehen. Ende der 1980er und in den 1990er Jahren nimmt Emil Cimiotti eine Reihe von Themen, vorwiegend mit Naturassoziationen, wieder auf, die ihn schon früher beschäftigt hatten, zum Beispiel „Pyramide / Berg“  (Abb. S. 37). Manche dieser Bronzen sind Faltungen, die sich horizontal am Boden entwickeln, wie etwa „Große Düne“ (Abb. S. 34/35) und „Kavernen, große Fassung“ (von lateinisch caverna = Höhle, Abb. S. 32). Andere erheben sich vertikal über einem Eisenfuß und nähern sich in ihrem äußeren Umriß dem Rechteck an, wie beispielsweise „Strukturen, vernetzt“ (Abb. S. 31) und „Afrikanisch, später Gruß an Willi Baumeister“ (Abb. S. 33). Die Ausstülpungen in der zuletzt genannten Plastik erinnern an die 41 Jahre früher entstandene „Daphne“ (Abb. S. 17). In den Arbeiten der letzten Jahre rückt das Thema Strukturen wieder in den Vordergrund. Einige dieser Arbeiten sind von äußerst lapidarer Form. Doch die Erfahrung Iehrt: „Das Einfache in der Kunst [...] ist oft nichts anderes als die schlüssigste Erscheinungsform des Komplexen“. 11

V.
Eine berühmte Formulierung Paul Cézannes scheint mir für die Kunst Emil Clmiottis besondere Gültigkeit zu haben: „Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur“. 12  Eine Parallelität zur Natur sehe ich bei Emil Clmiotti in doppelter Hinsicht.  Zum einen in seiner Formensprache, die, wenn auch im Detail meist ganz abstrakt aufgefaßt, im Ganzen doch oft an Naturerscheinungen erinnert und den Eindruck des Biomorphen, Naturhaften und Organischen hervorruft. Das bedeutet aber nicht, daß der Künstler das Naturvorbild in seinen Werken nachahmt, nachbildet, sondern im Gegenteil, daß er im Prozeß des Machens formale und strukturelle Analogien zur Natur erfindet. Dies führt zum zweiten  Aspekt der Parallelität zur Natur. Natur ist ja nicht nur Baum, Berg, Wolke, Leib und Landschaft, sondern auch Raum und Zeit, Werden und Vergehen, Wucherung und Verfall, Ordnung und Chaos, Kraft und Gegenkraft, Ruhe und Bewegung, Horizontale und Vertikale, Fülle und Leere, Innen und Außen, Abgrenzung und Öffnung, Vereinzelung und Durchdringung, Element und Struktur etc. Mit diesen Begriffspaaren sind nun zugleich die Grundprobleme eines jeden bildhauerischen Arbeitens umschrieben. Wenn Cimiotti in seiner Kunst also solchen elementaren Phänomenen und Prozessen nach - spürt, so behandelt er letztlich Naturphänomene – aber eben in einem ganz universellen, allgemeingültigen Sinn. Im März 1962 notiert Emil Cimiotti: „Schwebende Landschaft, Berge, anthropomorph. Materie, aber nicht das Beständige daran, das Kompakte, sondern das vorübergehende, das Temporäre. Offene Strukturen“. 13

Anmerkungen

1 Vgl. zu einer Funktionengeschlchte der Kunst: Werner Busch (Hg.), Funkkolleg Kunst Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, Neuausgabe, München/Zürlch 1997.

2 Rainer Volp, 10 Thesen zum Verhältnis bildende Kunst und Kirche (1974),in: Rainer Beck/ Rainer Volp / Gisela Schmirber (Hgg.),
Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, München 1984, S.289—294, hler S. 291. Vgl. zum Thema unter anderem: Gottlieb Leinz, Museum und Kirche. Religiöse Aspekte moderner Kunst, Ausstellungskalalog Dulsburg l991

3 Vgl Emil Clmiottl, Notlzen zur informellen Plastik,in: Chrlstoph Brockhaus/Gottlleb Leinz, Europäilsche Plastlk des lnformel
1945 – 1965,  Ausstellungskatalog Duisburg 1995, S. 41-45. Christmut Präger,
Action Sculpture“? Bemerkungen zu einem Abenteuer, in: Chrlstoph Zuschlag/Hans Gercke/Annette Frese (Hgg.), Brennpunkt Informel. Quellen - Strömungen – Reaktionen, Ausstellungskatalog Heidelberg 1998/99, Köln 1998, S. 136-141.. Plastiken des deutschen Informel, Ausstellungskatalog Galerle Rothe, Frankfurt am Main 1999 (mit einem Beitrag von Peter Anselm Riedl. Vgl zum Informel auch jungst: Donata Bretschnelder
(Hg.)/Chrlstoph Zuschlag (Bearb.), Tendenzen der abstrakten Kunst nach 1945.
Die Sammlung Kraft Bretschneider ln der Stlftung Kunst und Recht - Tübingen, Heidelberg 2003. Dirk Luckow (Hg), Augenkltzel. Barocke Meisterwerke und dle Kunst des Informel, Ausstellungskatalog Klel 2004.

4 Emil Clmiottl 1995 (wle Anm. 3), S.41.

5 Emil Clmiottl. Imaginäres Interview (undatiert, vermutllch  l970er Jahre),  Typoskript im Archiv des Künstlers.

6 Christa Lichtenstern, Osslp Zadkrne (189O-1967). Der Bildhauer und seine Ikonographie, Berlin 1980, S. 182 (Frankfurter Forschungen zur Kunst; 8).

7 Emil  Cimiotti, Notizen (1977), in: Dieter Blume (Bearb.)/Dieter Brusberg (Hg.), Emil Cimiotti - Werkverzeichnis der Plastiken 1955 bis 1977, Hannover 1978, S. 18-24, hier S. 24 (Brusberg Dokumente 10).

8 Emil Cimiotti, zitiert nach: Dieter Blume/Dieter Brusberg (Hgg.), Emil  Cimiotti - Ausgewählte Zeichnungen 1957 bis 1984, Berlin / Hannover 1984, S. 76(Brusberg Dokumente 13).

9 Vgl. Blume/Brusberg 1978 (wie Anm.7), Nr. 154. Bis 1984 entstehen weitere Brunnen - und Freiplastiken für Göttingen, Berlin und Recklinghausen.

10 Eberhard Roters, Emil Clmiotti, Hannover 1989, S. 52 (Niedersächsische Künstler der Gegenwart, Neue Folge; 36)
 
11 Peter Anselm Riedl, Mit dem Stahl - gegen den Stahl, in: Ingrid Mössinger/Beate Ritter (Hgg.), Wolfram Schneider, Ausstellungskatalog Chemnitz 2000,  S. 9-30, hier S. 9.

12 Paul Cézanne,  zitiert nach: Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, durchgesehene und erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 24.

13 Emil Clmiotti, zitiert nach: Blume/Brusberg 1984 (wie Anm. 8), S. 46.

 

Veröffentlicht in: Emil Cimiotti, “Strukturen”, Monografie 2013, Kerber Verlag

Prof. Dr. Christoph Zuschlag
* Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie in Heidelberg und Wien.
* Während des Studiums Museumspraktika in Berlin, Wien, San Francisco und Los Angeles
* Promotion 1991 mit einer Arbeit über “Entartete Kunst - Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland”
* 1991-1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Wissenschaftlicher Assistent am Kunsthistorischen Institut der Universität Heidelberg
* 1998 Kurator der Ausstellung “Brennpunkt Informel”
* 2002 Habilitation mit dem Thema: “Meta Kunst - Kunst über Kunst seit 1960”
* Seit 2007 Professor für Kunstgeschichte und Kunstvermittlung an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau
* 2011 Berufung in das Kuratorium der “Stiftung Informelle Kunst”, Darmstadt
(ausführliche Biografie unter: LINK)

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