Christa Lichtenstern: Emil Cimiotti “Papierreliefs” Nicht jedem Bildhauer ist es gegeben, im Alter nochmals zu einem Werk anzusetzen, in dem die Kräfte sich bündeln und Neues entsteht. Eine solche, spät herausgehobene Werkspanne legt Emil Cimiotti jetzt vor. Mit den Ergebnissen soll dieses Buch bekannt machen.Auch wenn ein Spätwerk von seinen Aufbrüchen lebt, so wird es doch immer vorhandene Erkenntnisse weiterführen und gegebenenfalls umwandeln. Will man bei Cimiotti die Schritte einer solchen Transformation erkennen, muss man seine bildnerischen Ziele näher in den Blick nehmen. Sprechen wir also zunächst von Größe, Formerfindung, Oberflächenbehandlung und Raum-Erschließung. All diese Aspekte seiner bildhauerischen Arbeit sowie seine spätere Auffassung von Farbe und Licht werden für seine Entwicklung der Papierreliefs bedeutsam. Von daher sollen hier vorab die späten bildnerischen Entwicklungen des Bildhauers näher betrachtet werden.
Zur Einführung: Cimiottis bildhauerisches Spätwerk
Als Cimiotti gegen Ende seiner Lehrtätigkeit an der Braunschweiger Kunsthochschule eine Lagerhalle in Hedwigsburg bei Wolfenbüttel erworben und als Atelier eingerichtet hatte, boten sich für die Arbeit größere Formate geradezu an. Sein eigentliches Spätwerk konnte beginnen. Damit einhergehend eroberte sich Cimiotti eine neue Unabhängigkeit. Die Situation kommentierte der Künstler rückblickend so: „Grenzen fallen im Alter leichter weg. Man wird gelassener. Man glaubt auch nicht mehr an traditionell besetzte Grenzen.“ 1 Bisherige Grenzen zu transzendieren, sie aufzuheben, Grenzen fallen zu lassen – das Stichwort der Entgrenzung gilt im besonderen Sinne für Cimiottis Spätwerk.
Im neuen Atelier beginnt Cimiotti 1990 mit seiner großformatigen „Berg“-Serie. 2 Schon im Frühwerk hatte er z.B. mit Der Berg und seine Wolken (Abb. 1) die Doppelspur von „fest“ und „flüchtig“ verfolgt. Was er jetzt, oftmals farbig überarbeitet, als Keilform aufstellt, sei es unter den Titeln Pyramide, Vulcano oder Sierra Nevada, zeigt sich nun - mehr in neuer Vereinfachung und Wucht als aufragende, stark zerklüftete Hüllenform. Zugleich aber erscheinen diese freien Gebilde noch immer veränderlich, als bezögen sie ihre Kraft aus der erdgeschichtlichen Vergangenheit. Hier schlägt Cimiottis Movens der Verwandlung durch, das bei ihm stets an rhythmische Vorgänge gebunden ist. So kommt einem 1991 in den markanten Faltungen von Sierra Nevada (Abb. 2) ein durchgehender, großer Rhythmus entgegen, der seinerseits in die tragende Blockform eingespannt ist. Organische Bewegung und geometrische Überformung in eins zu sehen, gelang Cimiotti schon früh und immer wieder. Die Aufhebung dieses Widerspruchs sollte schon 1989 ein wichtiges Werk wie Strukturen vernetzt (Abb. 3) prägen und sich danach in zahlreichen Arbeiten zu erkennen geben.
Auch das späte Hauptwerk Große Düne (Für Caspar David Friedrich) (Abb. 4) von 1992, jetzt im Albertinum in Dresden, wird von diesem Ordnungsmoment mitbestimmt. Die diagonalen Falten der „Dünen“ ziehen über ein symmetrisches Kreuz hinweg, das sich aus den Arbeitsfugen ergab, die für den Guss notwendig waren. Technische Vorgaben schlagen in Gestaltgebung um. Ökonomie der Mittel war für Cimiotti von jeher ein tragendes Element. Cimiotti bildet in seinen Plastiken keine kompakten Volumen, sondern gliedert den Raum durch geformte Wandungen, hart und doch leicht. Die Oberflächen bleiben gussrau, fern jeder eingängigen Schönheit. Sie wirken wie offene, oftmals organische Gebilde. Dennoch lässt ihr Aufbau geometrische Grundformen hindurch klingen, die aus ihren Formgesetzmäßigkeiten heraus wirken - ein Sachverhalt, der später besonders für die Papierarbeiten gelten wird. Beredtes Beispiel in der Plastik bieten die Alpha/Nike-Bronzen (Abb. 5). Ihr durchgehender Typus besteht aus einem V-Element, das per se schon Aufschwung signalisiert. Inmitten aller Reduktion obsiegt das inhärente Thema der Flügel, Schwingen, ja des Gesangs.
Im 80. Lebensjahr bricht Cimiotti in der Werkgruppe Genesis (Abb. 6) und Bolide (Abb. 7) zu einem neuen Raum-Dialog auf. In der Grundform eines horizontal ausgezogenen Ovals bearbeitet er hier sein altes plastisches Grundthema der Einheit von Innen und Außen. In Genesis (2008) stoßen auf beiden Seiten je vier oblonge Schalenelemente aufeinander. Dadurch erscheint die Komposition nach außen abgeschirmt, gewährt aber knappe Einblicke in vielfältig innere Formbewegungen. Die Weiterentwicklung ist in Bolide (Meteor) anzutreffen. Jedwede Abschirmung wird aufgegeben. Die zugespitzten Flächen greifen wie Schwingen ineinander und scheinen aus dem Flächenverband heraus zu züngeln. Das Innere öffnet sich weit dem Äußeren, verliert sich aber nicht darin, da es von der ovoiden Grundform gehalten wird. Diese polarische Anlage von Bolide findet sich auch in zeitparallelen Zeichnungen, wie in dem hier abgebildeten Beispiel Zum Thema Bolide (Abb. 8), bei dem Cimiotti das bewegte Innenleben zügig umfährt.
So fällt in der Werkgruppe „Genesis/Bolide“ die Gewichtung der Einheit von Innen und Außen verschieden aus. Im ersten Fall umhegen die Flächen den Innenraum. Im zweiten Fall stoßen die Flächen in den Außenraum. Für beide Bronzen besorgen aber nahezu gleiche, gestreckte ovale Rahmenformen die notwendige Beruhigung der Flächenbewegungen. Das Oval ist der Garant des Zusammenwirkens von Innen und Außen und deren Gleichwertigkeit. Dieselbe Stimmigkeit spricht aus Goethes Zeilen, die Cimiotti sehr liebt:
„Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: denn was innen, das ist außen.“ Aus: Epirrhema, Müsset im Naturbetrachten / Immer eins wie alles achten. 3
Im 88. Lebensjahr, 2014/15, beschließt Cimiotti seine plastische Arbeit mit der Werkgruppe Atmen (Abb. 9). Ihre Grundgebärde ist die des räumlichen Aufquellens aus der Mitte heraus. Die rhythmische Durchformung, die der Plastiker seit seinen Anfängen handhabt, wird hier geweitet. So scheint die Plastik wie atmend einen Raum in sich zu bergen. Es ist ein erfüllter Raum und zugleich ein befriedeter Abschied von der Bronzeplastik, die Cimotti über 60 Jahre mit fortwährend neuen Impulsen bereichert hatte. Aus dieser Erfüllung gewinnt er den Absprung ins Neuland: in das Flächenrelief seiner künftigen Papierarbeiten.
Der autonome Zeichner
Die farbigen Papierreliefs Emil Cimiottis aus den Jahren 2012 bis 2016 bilden einen eigenen corpus in seinem Spätwerk. In ihm findet Cimiottis autonomes zeichnerisches Gesamtwerk eine ungeahnte Steigerung. Von Blatt zu Blatt entwickelt sich ein bildnerisches Thema aus dem Vorangehenden. Dabei kommen dem Künstler bestimmte Grundsätze und methodische Entscheidungen zugute, die er zuvor als Zeichner getroffen hatte. Auch die entschiedenen Gruppenbildungen und Reihen bleiben als solche tragend. Diese und andere Voraussetzungen zu kennen, erleichtert den Zugang zu den jüngsten Arbeiten, schärft aber auch den Blick für die Unterschiede. So seien nachfolgend die wichtigsten Positionen des Zeichners näher betrachtet.
Den Zeichner Emil Cimiotti kennzeichnet die absolute Freiheit und Unabhängigkeit von jedweder gegenständlichen Bindung. Auch die eigenen Bronzen dienen niemals als Vor-Bilder. Wohl aber bleibt wirksam, was an modulativer Gestaltungskraft in sie eingegangen war. Aufmerksame Empathie dem eigenen Tun gegenüber kennzeichnet auch den Entstehungsprozess seiner Zeichnungen. Wie kein anderer seiner Generation (zu denken wäre u.a. an Kricke, Herrmanns und Heerich), wollte Cimiotti zeichnend im Fluss bleiben, wollte geschehen lassen und suchte das, was sich an inneren Bildern einstellt und was die Möglichkeiten des Materials je nach Wahl - Papier, Feder, Kugelschreiber, Tuschen und Aquarell hergeben - zu realisieren.
Für dieses besondere Vertrauen zum „Material“, das er bis heute bewahrt, ist schon die Zeichnung Skamander von 1957 charakteristisch (Abb. 10). Sie vertritt im Frühwerk beispielhaft die vorrömische Phase (1957-1959). Zu diesem Schlüsselwerk bemerkte der Künstler unlängst: „Hier hatte ich im ‚Hinschreiben‘ im Querformat eine Basis meines Zeichnens gefunden. Die Zeichnung wird zur Szene und hat keinerlei Verbindung mehr zur Plastik.“ 4 Auf hartem Schöller-Karton wird das Hell/Dunkel der Formen pulsierend in Bewegung gehalten. Kraftvolle Pinselzüge binden dunkle Zonen aneinander, die ihrerseits umso heller die Kopf-Schulter-Fragmente herausheben. Als Zeichner bleibt Cimiotti ständig auf der Suche nach dem sprechenden Hell/Dunkel. Der Titel Skamander stammt von Homer, der in der Ilias schildert, wie das Blut der dahintreibenden Trojaner-Leichen den Fluss Skamandros rötet. Solche präzisen erzählerischen Momente tauchen gelegentlich auch später auf. So können die „gelenkkopfähnlichen Formen“ aus Skamander, wie Dieter Blume beobachtete, wiederkehren „in den Knochenstrukturen“ in den 70er Jahren; sie werden ein wesentliches Element in den locker hingeschriebenen Graphismen der „Landschaften“ in der Rignano-Folge (Zabriskie-Point, Giladesert) und sie kehren schließlich wieder in den knaufartigen Kopfformen der Gruppen auf den Blättern der achtziger Jahre mit den Titeln Macbeth, Chaoten und Boat People. 5
Die fundamentale Entdeckung von 1957, dass die Zeichnung „zur Szene wird“, bestimmt auch die vielen Blätter, die Cimiotti 1959 während der neun Monate in der Villa Massimo zeichnete. Aber auch darüber hinaus bleibt diese Entdeckung ein konstanter Antrieb. In Rom fühlt sich der 32-Jährige „frei wie nie zuvor“. 6 Er schreibt: „Alle Vorstellungen (was Kunst zu sein habe) fallen von mir ab, und ich vertraue meinen Kräften und dem, was unter meinen Händen entsteht.“ 7 Dieser neue Aufschwung spricht aus jedem der römischen Blätter. Gestützt durch das Fabriano-Papier, das wegen seiner hadernreichen Qualität weicher war und somit eher malerische Tönungen und größere Tiefen zulässt, entstehen jetzt abstrakte Kompositionen, die im „all over“ ihrer Kürzel-Motive die ganze Fläche füllen. Als Beispiel diene das Blatt Ohne Titel aus der Kunsthalle Recklinghausen (Abb. 11). In solchen bildmäßigen Zeichnungen gibt sich der Bildhauer allenfalls in der Art zu erkennen, wie er über Licht-Schleusen den Raum imaginiert.
Die römischen Zeichnungen zeigen Cimiotti in neuer Freiheit, Selbständigkeit und Kraft. Er entdeckt jetzt eine große Offenheit in der Behandlung der Fläche. Ihm geht es nun eher um „Spannungsgewebe und Strukturen“. 8
Das „all over“ von Linien, Schraffen und Formkürzeln, letztere zunehmend auf den weiblichen Körper anspielend, ist noch bis 1964 das Charakteristikum der weiteren Zeichnungen auf Fabriano. Als diese hadernreiche Papiersorte ihm nicht mehr verfügbar ist, sucht sich Cimiotti ab den 70er Jahren mit dem Zeichenkarton zu arrangieren. Einmal mehr zeigt sich, wie von Anfang an für den Zeichner Cimiotti das Papier ein großes Mitspracherecht besitzt. Es bestimmt wesentlich den Gestaltungsprozess mit. Der Wechsel zum Karton veranlasst den Künstler zu schraffierten, hell belassenen Bleistift-Zeichnungen. Ihr Thema sind Knochen. Sie werden nirgends nachbuchstabiert. Was Cimiotti interessiert, sind ihre Höhlungen und deren abgründige Anmutung. Dabei entstehen immer wieder in den Zeichnungen, aber auch in den gleichzeitigen Plastiken, was ich nennen möchte, „Skelett-Physiognomien“. Eines der bewegendsten Beispiele bietet die Bronze Mein Bruder von 1975 (Abb. 12). Sie gewährt Einblicke in Kavernen des Knochengefüges. Nirgendwo lässt sie den Eindruck von morbidezza aufkommen. Vielmehr schließt die Würdeformel dieser Plastik noch immer an den Typus der Porträts der italienischen Frührenaissance an. In der späteren Zeichnung zum Thema: Mein Bruder (Abb. 13) akzentuieren Glanzlichter die Wölbungen des Schädels. Dazu notiert Cimiotti während der Ferien in Rignana im Juli 1976: „Die neuen Kugelschreiberzeichnungen mit Deckweiß korrigiert. Das Deckweiß löst die Tinten an, es entstehen wie von selbst farbige Nuancen, ein Weiß wird fast ein Rosa. Vielleicht ein erster Schritt zur Verwendung von Farbe.“ 9
Die neue Farbigkeit
Es fällt auf, wie bewusst Cimiotti den „Schritt“ zur Farbe für sich konstatiert. Tatsächlich bedeutet für einen Bildhauer die Entdeckung der Farbe ein Ereignis. Auch für Cimiotti sollte sie noch weitreichende Folgen bis in die Gegenwart zeitigen. Im September 1976 notiert er: „Habe erstmals eine Plastik bemalt. War zunächst sehr unsicher, habe häufig geändert, schließlich farbige Details belassen. Es kommen ganz neue Vorstellungen in Gang. Auch die Zeichnungen werden farbig. Farbe nicht als Zutat, sondern zur Vertiefung der Vorstellung.“ 10
Dies gilt es festzuhalten: Die Farbe besitzt für Cimiotti in der Plastik wie in der Zeichnung eine eindeutige Funktion. Sie wird gleichsam in die innere Werkstatt des Künstlers eingeholt. Vom Kern alles Schaffens her trägt und gestaltet sie die sich bildenden Vorstellungen und Assoziationen. Demnach darf die Farbe auch noch in den späten Papierarbeiten niemals lediglich als Akzidenz verstanden werden.
Bis zu welchem Grade die Farbe in den Gestaltungsakt aufgenommen ist, zeigt sich exemplarisch in bestimmten „Leib/Landschaften“ der frühen 80er Jahre. Besonders sprechend in diesem Zusammenhang sind Blondine I von 1983 (Abb. 14) und die Zeichnung Leib/Landschaft von 1988 (Abb. 15). Bezieht letztere ihr Leben aus den tonalen Werten der wasserlöslichen Kreide, so dominiert in Blondine I eine vielteilige Farbigkeit. Alles was die Gouache, die Fettkreiden und der Kugelschreiber hergeben, setzt Cimiotti ein, um einen weiblichen Akt zu evozieren und das heißt auch: nicht zu beschreiben. Seine Formen geraten ins Fließen. Die Aufsicht auf den fragilen Körper, der sich zu dehnen scheint, wirkt wie aus großer Ferne gesehen. Der „Leib“ wird zur „Erscheinung“. Er beginnt aus dem lichten, ockerfarbenen Papiergrund durch die sprühenden Farbwellen hindurch zu „blühen“. Cimiotti kommt hier seiner Zielsetzung sehr nahe: „Die Oberfläche einer Plastik, die „Haut“ einer Zeichnung: So will ich sie haben, dass man glaubt, den Puls darunter fühlen zu können.“ 11
Die in den „Leib/Landschaften“ über die Farbe erreichte sensible Auflösung von Grenzen weicht in den Folgejahren ab 1991 einem lapidareren Zugriff. So stellt sich im Spätwerk eine neue Einfachheit und großzügig-flüchtige Flächenverspannung ein - auch im Einklang mit seinen zeitparallelen Plastiken.
Als Beispiel diene die Lackgouache von 1994 Berg (Abb. 16). Mit wenigen Pinselzügen hingestrichen, entfaltet sie das karge Szenario einer imaginären Berglandschaft. Die Beschränkung auf zwei Farben, in diesem Fall Braun und Chamois, präludiert Cimiottis latente Farben-Ökonomie der späteren Papierreliefs.
Prolog
Cimiottis zunehmendes Verständnis von Farbe bildet einen der Pfeiler, auf denen seine großformatigen Papierarbeiten gründen. Der zweite Pfeiler ist Cimiottis Art, das Papier als plastisches Instrument zu begreifen und als solches bei der Gestaltung mitwirken zu lassen. Indem Cimiotti die Mitsprache- möglichkeiten des Kartons oder später dünnerer Papiere berücksichtigt und über sie fortschreitend zum Papierrelief gelangt, haben die hier vorgestellten späten Arbeiten ihr tragendes Fundament gefunden. Jetzt tritt der Künstler in ein neues Vertrauensverhältnis ein, das schon Strawinsky in seiner „poétique musicale“ (1942) als „Inspiration durch das Material“ bezeichnet hat. Mehr noch: das Material Papier gibt Cimiotti, wie zu zeigen ist, seine eigene, inhärent plastisch-gestalterische Logik vor.
Die Hinwendung zum Papier als plastisches Medium setzt 2011 mit Arbeiten ein, die vieles von dem kommenden Weg vorwegnehmen. Sie seien hier als „Prolog“ zusammengefasst.
Feld (Prolog, S. 14) von 2011 gibt bereits die Methode vor: Cimiotti presst das Papier in diagonal über das ganze Blatt geführte, irreguläre Falten, deren Grate er flüchtig mit schwarzer Kreide einfärbt und laviert. Zufallsspuren markieren die gewölbten Flächen mit. Der Eindruck von schrundigen Erdschollen stellt sich ein und darin die Nähe zu Cimiottis oberflächenbewegten Plastiken wie Terrain oder Terra Incognita IV. In weiteren Kreide-Arbeiten betont er die Mittelachse und fügt flügelartig zugeschnittene Relieffragmente zusammen. 12
In diesen zukunftshaltigen Blättern belässt es Cimiotti noch ganz bei Schwarz und Weiß. Der Übergang zur Farbe und zur moderaten Reißtechnik bleibt den folgenden Arbeiten vorbehalten. So zum Beispiel in Nugget (Prolog, S. 16), Aquacryl, 2013 entstanden. Die Arbeit zeigt im Goldton ein frei ineinander schwingendes Liniengewebe. Die Komposition wird durch die ovale Gesamtform gefasst. Hier verdeutlicht Cimiotti erneut, wie wichtig ihm das Oval als Garant von Fasslichkeit ist. Das Oval verbleibt bei ihm stets in der Horizontale, deren Verfließen es zu verhindern gilt.
Horizontal gehalten ist auch die Streifenkomposition Wasser von 2014 (Prolog, S. 24), die nun bereits voll in die Farbe geht. Satte Indigo/Blau- und Grautöne schäumen gleichsam empor. Nur auf den ersten Blick erscheint diese Arbeit mit Aquacrylfarben auf weichem Fabriano malerisch. Indessen besitzt sie eine Binnengliederung, deren dreifache Stufen wie Schwellen plastisch wirken.
Der volle Zugriff auf die Farbe, wie ihn Nugget und Wasser signalisieren, greift der kommenden Entwicklung der Papierreliefs voraus.
Den Übergang zur Reißtechnik und damit zum eigentlichen Introitus der Papierreliefs vollzieht das Blatt Ohne Titel, wasserlösliche Kreide, 2013 (Prolog, S. 19). Hier reißt Cimiotti aus einer scheinbar abgeschlossenen Arbeit eine ovale Form heraus, die mit ihren kristallhaften Strukturen noch Werkskizzen und Plastiken zum Thema „Baum“ nahesteht 13. Das Reißen setzt unvorhergesehene Wirkungen frei. Es kommt dem Tastsinn des Künstlers entgegen. Das Ganze wird offener. Die faserigen Ränder erschließen das Material Papier deutlicher.
Als nächstes reißt Cimiotti in Ohne Titel, Aquacryl (Prolog, S. 20) aus der ovalen Gesamtform zungenartige Teile heraus. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass das Papier angewellt wird und sich auf diesem Wege reale Höhen und Tiefen ergeben. Wieder ist der Zufall ein ständiger Begleiter. Dazu Cimiotti: „Es ist nichts langweiliger, als wenn nur das entsteht, was man plant.“ 14
Von den erstmals gerissenen Prolog-Arbeiten und damit von einer verstärkten Berücksichtigung der papiernen Marterialwerte ausgehend, folgen ab 2015 Zug um Zug die acht Hauptgruppen der Papierreliefs. So entstehen als erstes aus lapidaren waagerechten Faltungen und Farbschichtungen die Horizonte (S. 26-31): Der Plural trifft genau. Breit hin stuft Cimiotti die irregulär verlaufenden Farbbahnen übereinander. Nicht in einem Horizont sammelt sich hier die Zeit, vielmehr verläuft sie in vielfachen Staffelungen vermehrt dahin.
In die Diagonale gehoben, kommt es dann zu strengen Richtungsfugen, genannt Tempi (S. 33-38). In diesen Blättern erkennt der Betrachter starke, zielverhaftete Bewegungen von großer Reinheit und Konzentration. Wieder werden die Falten-Grate mit breitem Pinsel eingefärbt. Die Farbbahnen folgen dem freien raschen Lauf der Hand. Zufälle werden geprüft, verworfen oder genutzt. Das zuvor gefasste Vorstellungsbild wird im Zuge neuer Konstellationen erweitert.
Bald nach seinen ersten scharfen Faltungen, genauer nach den Tempi-Arbeiten, geht Cimotti zu martialischen Eingriffen über: Aus der ebenen Papierfläche ist jetzt ein Gefilde von Quetschungen, Bergen und Tälern geworden - eine Topographie. Nun setzt der Bildhauer seine Akzente: die Farben rinnen in die Täler und zeichnen von sich aus ein bizarres Aderwerk. Cimiotti nennt sie Sporaden (S. 40-45) in Parallele zu der verstreuten Inselgruppe in der Ägäis.
Bei der zeitlich folgenden Werkgruppe, macchiato genannt (S. 47-61), bleibt es bei der heftigen Knautschung des Papiers. Doch auf der bewegt modellierten Fläche verdichtet Cimiotti nunmehr aus größeren Farbpartikeln sein geflecktes (italienisch: macchiato) „Spannungsgewebe“. Hierzu werden die Farbströme abgebremst, helle, fleckenhafte Zonen treten aus dunklen hervor und es kommt zu einem bewegten, transparenten Ineinanderwirken der ephemeren Formen.
Auf die beiden zuletzt betrachteten Gruppen mit ihren freien, pulsierenden Formfindungen - der Akzent liegt auf „Findung“ - folgt der Umschlag: Jetzt wagt der Bildhauer die willensbetonte Setzung. Er färbt die Flächen durchweg mit einer Farbe ein. Danach presst er kalkulierte Gräben und Grate in das Blatt, die ihrerseits die Komposition in einer strengen Ordnung gliedern und zusammenbinden. Entsprechend gab Cimiotti dieser monumentalen Werkgruppe den Titel Segmente (S. 71-79).
Angesichts der geometrischen Härte, die bedingt ist durch die scharfen Falten des Papiers, stellt sich allerdings bald bei dem Künstler ein Unbehagen ein. Unter Zuhilfenahme eines dünneren, wiederum gänzlich eingefärbten Papiers wird er alsbald das Prinzip der Setzung anders beleben. Die aufgeschnittenen Papierteile werden wie zu Rippen eng gefaltet und dann einander zugeordnet.
Dabei kann, wie in dem hier abgebildeten orangefarbenen Beispiel (Strophen, S. 86), die Mitte zu einem Strahlenzentrum werden, das Geometrie und Symmetrie in der leben- digen Ordnung seiner Teile überglänzt. Diese Arbeiten nennt Cimiotti besonders glücklich Strophen (S. 81-96). Sie leben wie ein Gedicht von der Beweglichkeit eines in sich gefassten Sprachkörpers, durch den es von Teil zu Teil, von „Strophe“ zu „Strophe“, fließt. In einer weiteren Werkgruppe, genannt Etapes (S. 98-103), die sich an die Strophen anschließt, wechselt Cimiotti 2016 nochmals das Procedere. Die Faltungen gewinnen an Höhen und Tiefen und die gesamte Fläche wird stärker rhythmisiert. Die Farbigkeit mutet eher durchscheinend an, was den Eindruck verstärkter Räumlichkeit noch unterstützt. Der Titel verdeutlicht, dass für den Künstler die Arbeit an den Papierreliefs noch nicht abgeschlossen ist.
Zur Farbigkeit der Papierreliefs
Durchgängig verwendet Cimiotti in den Reliefs stets nur eine Farbe. Mit der Farbe, bevorzugt im warmen Bereich angesiedelt, hat es in den Papierreliefs sein eigenes Bewenden. Zunächst fällt auf, dass zum Beispiel Gelb nur dort auftaucht, wo die ganze Fläche farbig gefüllt ist. Dies erklärt sich aus dem starken Lichtgehalt dieser Farbe. Gelb will sich ausbreiten und strahlen. Dagegen dominieren Grün, Blau, Braun und Schwarz in den Tempi- und Horizonte-Kompositionen. Das Grün hält stets Bezüge zu Pflanzlichem und zu Organischem bereit. Folgerichtig lassen die grünen Arbeiten, vor allem die Horizonte, gern landschaftliche Assoziationen aufkommen. Auffallend viel Rot findet sich in den Macchiato-Arbeiten. Diese Farbe wird gern als körperhaft empfunden. Bei Cimiotti sprüht sie vor Leben. Rouge bestimmt auch eine Werkgruppe, der hier ein eigener Abbildungsteil eingeräumt wurde (Rouge, S. 63-69).
Farbe, so hieß es eingangs, meint für Cimiotti niemals „Zutat“, sondern gehört ins innerste Zentrum seiner Vorstellungen. In den Papierreliefs wird sie mit einer Kraft, wie nie zuvor bei ihm, absolut gesetzt. An ein und derselben Farbe können sich nunmehr Hell/Dunkelwerte entwickeln, wie sie freilich für den Zeichner Cimiotti schon immer von fundamentaler Bedeutung waren.
Der Sachverhalt, dass die Farbe und ihre monochrome Leuchtkraft für Cimiotti im Alter zunehmend wesentlicher werden, ohne dass er sie malerisch verwendet, spiegelt sich auch in der folgenden Selbstaussage: „Farben sind für mich kein sekundäres Phänomen. Wenn erst die Farbe da ist, bleibe ich ganz im Banne der durch sie geschaffenen Situation“. 15
In den betrachteten Papierarbeiten begegnete als durchgängiges Merkmal das Moment des Überganges von der Fläche zum Raum. Dabei wurde deutlich, wie jeder neue Schritt aus dem vorangehenden folgt und noch stärker in den Raum der sich bildenden Reliefs hineinführt. Auf diesem Entwicklungsgang bleibt Cimiotti ganz im Banne des Form- und Farbgeschehens. Dass das nicht selbstverständlich ist, lehrt z.B. der Vergleich mit dem Maler Bernard Schultze. Auch er treibt seine Papierreliefs, „Zungenreliefs“ genannt, in den Raum. Sie zielen jedoch auf die narrative Freilegung des Unbewussten. Auch die bekannten Faltungen von Hermann Glöckner sind nicht vergleichbar. Denn Glöckners Faltungen und Collagen suchen den Raum, bevorzugen aber hierzu konstruktiv gebaute Flächen.
Anders Cimiotti. Er hält sich gleichsam in der Spur. Er wird durch die Eigenaussage des Materials Papier und durch dessen inhärente plastische Möglichkeiten zu seinen Reliefs geführt. Der Wille des Materials bleibt diesem Bildhauer vordringlich. Entsprechend geht es ihm - über die Vorgaben seiner bisherigen autonomen Zeichnung hinaus - um ein plastisches Geschehen in der Farbe, im Licht und im Raum. Durch alles hindurch wirkt ein Impuls, der von einem rationalen und leidenschaftlichen Ordnungswillen bestimmt wird.
Der erweiterte Strukturbegriff
Diese Ordnung enthält Grundzüge, die es gilt, noch genauer zu betrachten. Da ist zunächst die erste Zweiergruppe der Horizonte und Tempi. Die Horizonte wirken ruhig und in die Breite gedehnt, die Tempi energisch in die Diagonalen verspannt. Die zweite Doppelgruppe, Sporaden und Macchiato, setzt lockere oder heftige Farbstreuungen gegen fleckenhafte Farbballungen. Segmente (unter Einschluss der Rot-Serie) und Strophen folgen dem Leitprinzip der willens-betonten Setzung: streng in den Segmenten, offener und freier organisiert in den Strophen.
So gesehen ziehen sich durch die Papierreliefs Folgen von Polaritäten. Sie überraschen bei dem Bildhauer Cimiotti nicht. Gerade er bewegt sich in seinen sensiblen, vom Wachs her entwickelten Plastiken im modulativen Wechsel von Formungsprozessen. Schließlich bewegen sich die Grunddispositionen alles Räumlichen zwischen Polen: zwischen Höhen und Tiefen ebenso wie zwischen innen und außen, konvex und konkav, oben und unten, vorne und hinten.
Um diese Wechselverhältnisse in ein Maß zu bringen und formend auszugleichen, bedarf es einer Energie, die über rein bildnerische Aspekte hinausgeht. Denn der Bildhauer wie der Gestalter von Papierreliefs steht fortwährend vor Entscheidungen, die er aus seinem gesamten schöpferischen Fundus zu bewältigen hat. Unter seinen Händen weitet sich der Begriff der Struktur zum Leben hin, genauer zu einer Ordnung, die es immer wieder neu zu finden und zu bewahren gilt. Struktur als Haltung, als ethischer Gewinn. So gesehen zählt für Cimiotti nur die Arbeit. Manifeste, Thesen und Doktrinen überlässt er Anderen.
Die Papierreliefs ruhen auf dem gesamten Fundament von Cimiottis künstlerischer Arbeit. Hiervon getragen, behaupten sie sich mit erstaunlicher Frische, ja neuer farblicher Intensität - einer Strahlkraft, die in der gegenwärtigen Bildhauerszene ihres gleichen sucht.
Anmerkungen: 1.: Gesprächsmitteilung, 23. 7. 2015 2.: Zu Cimiottis innovativem Umgang mit dem Berg-Thema vgl. Hans Gercke, Parallel zur Natur. Über das Motiv des Berges im Schaffen von Emil Cimiotti, in: Emil Cimiotti, hrsg. V. Theo Bergenthal u. Joachim Stracke, Heidelberg 2005, S. 157-159 3: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bronzen, hrsg. V. Erich Trunz, Bd. 1, (12. Aufl.), München 1981, S. 358. – Wieweit für Cimiotti auch ansonsten Goethes Gedichte präsent sind, zeigt sich z.B. bei der Erwähnung „neuer Arbeitstitel“ während seiner Stipendiatenzeit in Rom, wo er im Mai 1959 eine Zeile aus dem West-Östlichen Divan anführt: „Nord- und südliches Gelände“ (aus Gottes ist der Orient ebd. Bd. 2, S. 10). 4.: Gesprächsmitteilung, April 2015 5.: Dieter Blume, Der Bildhauer als Zeichner, in Emil Cimiotti Ausgewählte Zeichnungen 1957-1984 (Brusberg Dokumente), Berlin/Hannover 1984, S. 14 6.: Brusberg (1984), S. 28 7.: Ebd. 8.: Gesprächsmitteilung, Oktober 2015 9.: Brusberg (1984), S. 66 10.: Brusberg (1984), S. 76 11.: Brusberg (1984), S. 96 12.: So z.B. in der collagierten Kreidezeichnung Alpha von 2012. Abgebildet zusammen mit der gleichnamigen, zeitparallelen Bronze in: Ausst.-Kat. Emil Cimiotti Zum Greifen nah, hrsg. V. Cecilie Hollberg, Städtisches Museum Braunschweig, Braunschweig 2013, Abb. 50/51. 13.: Vgl. Baum, 1992/2010, Bronze gussrau auf Stahl, 24 x 24 x 34 cm. Abgebildet in Emil Cimiotti, Strukturen, hrsg. v. Theo Bergenthal u. Joachim Stracke, Bielefeld/Berlin 2013, Abb. 128. 14.: Gesprächsmitteilung, 5.12.2015 15.: Gesprächsmitteilung, 5.12.2015
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