Christa Lichtenstern: Emil Cimiotti “Die Skizze wird autonom”
In den ersten Aufbaujahren, als im Nachkriegsdeutschland die Skulptur mit einer bis dahin unbekannten Vitalität an einem erweiterten Bewusstsein ihrer selbst arbeitete und im Kielwasser des Existentialismus um neue Werte rang, tauchte eine bildhauerische Begabung auf, deren Name sehr bald quer durch die Republik weitergereicht wurde: Emil Cimiotti. Nach fünfjährigem Studium u.a. in Stuttgart, Berlin und Paris arbeitete der 27jährige von Beginn seiner künstlerischen Selbständigkeit an, d. h. ab 1955, mit einer so untrüglichen Erfindungsgabe, dass ihm rasch in Eduard Trier, Albert Schulze-Vellinghausen und Otto van de Loo entscheidende Mentoren zur Seite standen. Die ab 1957 einsetzenden Preise, die frühen Stipendien - Deutsche Studienstiftung und Villa Massimo in Rom - die Beteiligungen an der Biennale, an der II. und III. documenta und schließlich 1963 die Berufung als Gründungsprofessor an die neue Kunsthochschule in Braunschweig, verhalfen dem Künstler zu jener existentiellen Sicherheit, die er für seine Herangehensweise am notwendigsten brauchte. Denn gerade in Cimiottis Werk zählt besonders die ungestörte Kontinuität und damit die Voraussetzung, in dem geforderten Bewegungsfluss von Formstrukturen, lebendig weiter experimentieren zu können. Wie ihm das gelang, beweist diese Braunschweiger Ausstellung in wünschenswerter Klarheit.
Die wichtigsten Stadien seiner Werkentwicklung prägen sich unmittelbar ein: nach der stark abstrahierenden Frühphase, hier beginnend mit Kassandra (Abb.) von 1956, folgt zwischen 1966 und 1974 die Zeit eines Austestens von mehr-Gegenständlichkeit - Blätter-Brunnen, Aktdarstellungen. Mit der einzigartigen Vanitas-Thematik (hier vertreten durch Romeo und Julia, Abb. und Ich denke an Alice, Abb.), kehrt Cimiotti zur verlorenen Wachstechnik zurück und damit zu weiteren prozessorientierten Kompositionen, die nun im Spätwerk immer großzügiger und zugleich konzentrierter, ja monumentaler werden.
Von jeher hat man Cimiottis Schaffen gern der sog. Plastik des Informel zugeordnet. Auch wenn sich der Terminus seit seiner Begründung durch Eduard Trier (1974) eingebürgert hat, so bleibt er doch in jedem einzelnen Fall zu überprüfen. Christoph Zuschlag z.B. erkannte an Cimiottis einschlägigen Bronzen als Kriterien des Informel: die Handschriftlichkeit, die reiche Oberflächentextur und die Offenheit der Formfindung während des Arbeitsprozesses direkt am Wachsmodell.
Als einziger Bildhauer betonte Cimiotti selbst 1995 in dem Duisburger Katalog zur Europäischen Plastik des Informel 1945-1965, dass die Plastik des Informel „in bisherige plastische Sehgewohnheiten verändernd eingegriffen" habe, indem sie die plastischen Massen vor allem räumlich neu ordne. Unser Sehen wird in der Tat plastisch neu sensibilisert, wenn Cimiotti seine atmend durchlässigen, immer durchfühlt modellierten Kompositionen in ihrem räumlichen Innen und Außen wie fluktuierend ineinander verwebt und sie sodann auf einem Stab platziert und als Ganzes zum Schweben bringt. Weiter führt Cimiotti 1995 aus: „Plastik ist das Ergebnis eines Prozesses. Wir sprachen von Häufungen, Strukturen, Duktus. Wir sprachen von Bildfindung - nicht mehr von Entwurf und Ausführung. Die Skizze wurde autonom."
Von ihrem zeitbedingten rebellischen Auftrag her meint die Kunst des Informel primär: Nicht-Form und Auflösung im Gestischen. So hatte es die Malerei seit Wols vorgeführt. In der Plastik kann es diese Auflösung per se so extrem nicht geben. Hier herrschen von Material, Technik und Statik her andere Gesetze. Von diesen Prämissen ausgehend, drängt die Plastik letztlich auf Verkörperung und kann als solche den Gestalt-Aspekt nicht wirklich aufgeben. Dem tragen Cimiottis Arbeiten auf ihre Weise Rechnung. Ihrer rhythmischen und räumlichen Vielgliedrigkeit und ihrem Verwehen der plastischen Auswüchse steht bewusst ein Erhalt klarer Umrissformen gegenüber (vgl. Römische Landschaft, Abb.). Auch der Zellenwald (Hommage an Max Ernst, Abb.) lebt von dieser Gestalt-Garantie: Das, was eben noch Außenfläche war, gerät in den Tiefensog unbestimmter Innenräume und bleibt dennoch als Organismus gesamtheitlich erfahrbar.
Ebenso bewahrt etwa im Wendekreis des Krebses (Abb.) das Beieinander von Flächenauffaltung und gezielter Raum-Staffelung, den Gestalt-Zusammenhang. Überall gibt sich bei Cimiotti ein inneres Maß-Bewusstsein zu erkennen, das durch alle Formentwicklungen hindurch als Gestalt durchschlägt. So verstanden, erhält sein Wort von der Skizze, die „autonom" wird, noch einen zusätzlichen Sinn.
Stets bleiben Cimiottis prozessorientierte Plastiken struktural gebändigt. So verwundert es auch nicht, wenn Struktur der Schlüsselbegriff ist, der - bis in vielfache Titelgebungen hinein - über seinem gesamten Schaffen steht.
Das Wort entstammt dem Lateinischen: structura (Bauwerk), struere (bauen). Interessanterweise kommt der Gebrauch vom Strukturieren erst so richtig im 20. Jahrhundert in Schwung. Wir denken in seinem Wortsinn, wenn wir sagen: Ein Vortrag wird in Haupt- und Nebenpunkte strukturiert. Oder: Ein Charakter ist nicht ausschweifend, zerfließend, sondern gibt sich organisiert, eben strukturiert.
Cimiottis Leitbegriff Struktur scheint auch historisch konnotiert. Einem Gesprächshinweis zufolge war der junge Künstler zeitweilig in Stuttgart für das Ideengut von Max Bense aufgeschlossen, wie es sich in dessen sog. Stuttgarter Schule manifestierte. Max Bense (1910-1990) ein umtriebiger, umstrittener, aber von den Studenten verehrter Mathematiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, lehrte seit 1950 in Stuttgart an der Technischen Universität. Bense scharte eine kleine auserwählte Diskussionsrunde von jungen Literaten, Künstlern und Philosophen um sich.
Er plädierte hier wie in seinen zahlreichen Schriften für eine materiale und analytische Ästhetik, die sich semiotischer, numerischer und informationeller Mittel bediente. Mit Bense und seiner Gruppe sind Cimiotti und seine Frau Brigitte u.a. in die Provence gefahren. Was in diesem Kreis vor allem verhandelt wurde, war der Ausblick auf eine Ästhetik, die Bewusstsein, Fühlen und Machen einschloss. In ihrem Manifest von 1964, das Max Bense und Reinhard Döhl gemeinsam verfasst hatten, heißt es: „Wir ziehen die Poesie der Mischformen vor. Ihre Kriterien sind Experiment und Theorie, Demonstration, Modell, Muster, Spiel, Reduktion, Permutation, Iteration, [...] Störung und Streuung, Serie und Struktur.
Das Erzeugen ästhetischer Gebilde" erfolge "nicht mehr aus Gefühlszwängen, [...] sondern auf der Basis bewußter Theorien, intellektueller [...] Redlichkeit. Zur Realisation ästhetischer Gebilde „sei" wieder der Handwerker getreten, der die Materialien" handhabe und „die materialen Prozesse [...] in Gang" halte. Hier klingen Sachverhalte an, die für Cimiottis Kunstpraxis bedeutsam werden sollten. Auch er bringt „materiale Prozesse" in Gang, insofern sich seine dynamischen Formaufbauten aus der engsten Zwiesprache mit dem Material, sprich dem Wachs, heraus entwickeln und zu ihrer Gestalt finden. Auch er sieht sich primär als Handwerker. Zum experimentellen Charakter der „materialen Poesie" gehört es ferner, wenn Cimiotti schon 1959 in der Korrespondenz mit Eduard Trier auf der „beabsichtigten Vieldeutigkeit" seiner Inhalte besteht und ausdrücklich bemerkt: „Titel sind mir wichtig". Diese „beabsichtigte Vieldeutigkeit" hinter durchaus wahrnehmbaren Inhalten und das freilassende Bekenntnis zur Assoziation veranschaulicht in dieser Ausstellung exemplarisch die späte Plastik Palmyra (Abb.). Die Arbeit gehört typologisch zu der Werkgruppe der Flügelpaare, die die Überraschung der Jahre 2011/12 darstellte. Durch diese Bronzen zieht sich der starke Gestus eines Aufschwungs hindurch. Die V-förmige Raumgestalt, die sich in den Flügelpaaren und Nike-Darstellungen aufgabelt, hat sich in Palmyra gleichsam mit Masse aufgefüllt. Im Strahlenfächer dieser Bronze bleibt sowohl die Assoziation an das Palmenblatt wie auch die gebündelte Anmutung von Säulenschäften erhalten - möglicherweise eine Bilderinnerung an die ausgedehnten Tempelruinen der syrischen Oasenstadt. In Palmyra verweisen einmal mehr die Oberflächenstruktur und das dynamische Beieinander der Formbahnen auf den Entstehungsprozess. Ihn offen zu halten ist Cimiotti wichtig. Wie auch in den übrigen Arbeiten der besagten Werkgruppe von 2011/12 taucht Cimiotti Bahnen von Buchbindergaze, die er sich zuvor schmiegsam wusch, in flüssiges Wachs. Während des Herausziehen ergeben sich Stauchungen, Wellungen und andere Strukturen.
Die Formen werden sodann beschnitten, durchgestaltet und zu der jeweiligen Komposition zusammengefügt. Dieses so entstandene und noch zusätzlich bearbeitete Formgebilde dient als Modell für den Guss im cire-perdu-Verfahren. Die fertige Bronze wird gussrauh belassen, sodann partiell nochmals im Atelier vom Künstler überarbeitet und mit einem Ständer versehen.
In diesen späten Arbeiten treibt Cimiotti seine lebenslange Abkehr vom Volumen auf die Spitze. Bronze um Bronze setzt jede Figur zu einem veritablen Höhenflug an. Man glaubt einem Aufstieg in einen weiten, oberen Raum hinein beizuwohnen. Palmyra oder das pars pro toto der werkverwandten Flügel-Plastiken bezeugen die Schlüssigkeit eines abstrakten Fragments. Eine derartige Dichte und Frische des poetischen Ausdrucks beleuchtet und bestätigt noch einmal die unversiegbare Innovationskraft dieses großen deutschen Plastikers.
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