Emil Cimiotti
 von Christa Lichtenstern

cim 2010 Nike gr

Nike II, 2011

Nike, 2010/11

Es kam in der jüngeren Geschichte der Skulptur noch nicht oft vor, dass ein Bildhauer in seinem Spätwerk derart Fahrt aufnimmt, wie dies Emil Cimiotti in seiner Nike-Folge tat. Die Gruppe von neun Bronzen entstand in den Jahren 2010 und 2011. Durch die typologisch eng verwandten Arbeiten zieht sich der ungebrochene Gestus eines Aufschwungs“ hindurch. Sein Anblick gibt den Sinnen Stärke“ - so möchte man frei nach Goethe (Faust I, Vers 247) formulieren. Im Betrachter steigt eine Metapher nach der anderen auf: Flügel, Schwingen, Atem, Gesang, Jubel und andere mehr. In jedem Fall schwingt ein großes Formenpaar, in der Mitte verbunden, V-gestaltig nach oben aus. In den Oberflächen vibrierend und an den Rändern ausfahrend, steigt es in die Höhe auf, um sich hier - mal schmaler, mal weiter - in unterschiedlichen Winkeln in den Raum zu öffnen.
So bewegt wie der Ausdruck, so dynamisch gestaltet sich der Entstehungsprozess: Cimiotti taucht Bahnen von Buchbindergaze, die er sich zuvor schmiegsam gewaschen hat, in flüssiges Wachs. Während des Herausziehens ergeben sich Stauchungen, Wellungen und andere Strukturen. Die Formen werden sodann beschnitten, durchgestaltet und zu der jeweiligen Komposition zusammengefügt. Dieses so entstandene und noch zusätzlich bearbeitete Formgebilde dient als Modell für den Guss im Cire-perdue-Verfahren. Die fertige Bronze wird gussrau belassen, sodann im Atelier vorn Künstler nochmals partiell überarbeitet und mit einem Ständer versehen. Das Ergebnis, die Nike-Folge, bezeugt mit aller gewohnten Bravour den
Handwerker“, als der sich Cimiotti stets primär verstand.
Nur wenige Vorgänger lassen sich benennen. So zum Beispiel die Bronze Wendekreis des Krebses von 2010, in der - gedoppelt - das Motiv der Gabelung vorbereitet wird. Aber erst in der neunteiligen Nike-Folge kommt es zur
Kehre“. Denn wie nie zuvor treibt Cimiotti hier seine lebenslange Abkehr vom Volumen auf die Spitze. Bronze um Bronze setzt jede Nike zu einem veritablen Höhenflug an und mit ihm zu einem für Cimiotti gänzlich ungewohnten emphatischen Aufbruch in einen weiten, oberen Raum hinein. Dabei erreicht das Pars pro Toto der „Flügel“ die Schlüssigkeit eines abstrakten Fragments.
Auffällig auch, wie der Künstler bei der Oberflächenbehandlung auf jedwede feinere Durchmodellierung verzichtet. Die „Haut“, schon immer vieldeutige Membran in Cimiottis Werk, erscheint in der Nike-Folge von vielfachen Zufallsspuren gezeichnet - tropfnah belassen, rissig und zugleich sehnig gestrafft. Das Licht flutet an den Bahnen entlang und jagt gleichsam über die abwehenden Ränder hinaus ins Freie. Ein „wilder“ später Cimiotti? Wie er hier tatsächlich in plastisches Neuland vorstößt, sich mit einem Maximum an Poesie „häutet“ und öffnet, beweist die außerordentliche, anhaltende Spannkraft dieses Künstlers, der die Kunstgeschichte noch lange beschäftigen wird.

Veröffentlicht in: Emil Cimiotti, “Strukturen”, Monografie 2013, Kerber Verlag


Prof. Dr. Christa Lichtenstern

* 1966-1976 Studium der Fächer Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Germanistik an den Universitäten Marburg,
   Frankfurt am Main, Heidelberg und Paris (Ecole des Hautes Etudes).
* 1976 Promotion in Frankfurt mit dem Thema „Ossip Zadkine. Der Bildhauer und seine Ikonographie“. Anschließend zweijähriger
   Werkvertrag am Städelmuseum, Frankfurt/M. Zur Neuerwerbung von Picassos Bronze „Tête de femme“ (1932) Kuratierung einer
   Studioausstellung mit Leihgaben aus dem In-und Ausland (1978). Dazu begleitende Vorträge zum Bildhauer Picasso und
   dazugehörige Museumspublikation.
* 1985-1986: Gastprofessuren in Gießen und Kassel.
* 1987: Berufung auf die C3-Professur, Kunstgeschichtliches Institut, Phillips Universität Marburg.
* 1996: Gastprofessur in Bloomington, USA.
* 1998-2008: C4-Professur an der Universität des Saarlandes (UdS), Kunstgeschichtliches Institut, Saarbrücken. Ordinariat.
* 2008: Emeritierung und Wechsel nach Berlin

(ausführliche Informationen: LINK)

portrait Lichtenstern