Figur, 1954 Avant l’Informel
In den Bunkertiefen der Skulpturendepots der Kunsthalle Mannheim entdeckte Bogomir Ecker jüngst eine aufrecht stehende, biomorph verschlungene Raumstruktur. Sie erwies sich als ein jahrelang unbeachtetes Frühwerk von Emil Cimiotti: Figur, Gips, 174 cm hoch. Begeistert beschloss der Bildhauer - 23 Jahre jünger als Cimiotti -, den Fremdling in das 2013 geplante Sammlungs- und Ausstellungsprojekt Nur Skulptur! einzubeziehen, für das ihn die Kunsthalle als Kurator beauftragt hatte. Der Künstler selbst reagierte höchst überrascht auf die Entdeckung und datierte die längst vergessene Plastik in das Jahr 1954. Cimiotti avant Cimiotti. Eine denkwürdige (Wieder-) Begegnung zwischen einem ad acta gelegten Werk und seinem Autor. Und zugleich ein verblüffendes Zusammentreffen zweier Generationen und skulpturaler Konzepte: Cimiotti und Ecker. In der absurden Zufallskonstellation des musealen Kunstlagers wirkt die lebensgroße, wirbelsäulenartig raumumgreifende Vertikalbewegung in weißem Gips fremd und vertraut zugleich. Sie entwickelt sich auratisch in die Höhe und ist dennoch unauflöslich mit ihrem Umraum verflochten. Eine Urform, zwillingshaft um sich selbst pulsierend: raumverschlingend, raumgebärend. Der plastische Versuch, einem fluktuierenden Austausch zwischen Volumen und Zwischenraum, positiv und negativ, konvex und konkav frei zu formen. Innen und außen geraten in Schwingung. In den Aus- und Einstülpungen der dynamisch an- und abschwellenden dichten Materie kommt diese Dialektik in die Balance: Die Plastik ist das Ergebnis der Interaktion von geformtem Material und geformten Raum - und deren synchroner Wahrnehmung, einer aktiven Zusammenschau aller komplementären Bewegungen. Das erscheint heute, nach fast 60 Jahren, erstaunlich up to date. Nur das die Oberflächen nicht spiegelglatt und transzendent, sondern in ihrer leichten All-over-Strukturierung haptisch wirksam, erkennbar von Menschenhand geformt sind. Dennoch blähen sie sich wie Membrane über ein organisches Körpergewächs. Ihre dialektische Spannung bezieht Figur jedoch nicht allein aus ihrer formalen Bewegung, sondern auch als anthropomorphes Vexierbild. Die Eigendynamik seiner Assoziationskraft suggeriert dem Betrachter die offene Frage: Welche „Figur“ gilt? Der geöffnete Formkörper oder die von ihm bestimmte amorphe Leere dazwischen? Oder sind es gar zwei Figuren, die sich empathisch verbunden sind? Es scheint, als ob an diesem Punkt der Betrachtung die menschliche Figur und ihre Geschichten – Psychologie und Narration – plötzlich wieder einbrechen in die weitgehende Naturabstraktion dieser frühen Gipsstruktur. Der junge Cimiotti – 1954 am Startpunkt ins eigene Werk – ringt im Spannungsfeld der „Heroen“ um seinen originären Platz in der Geschichte der Skulptur: Constantin Brancusi einerseits, den er kreativ zu überwinden sucht, und dem damals omnipräsenten Henry Moore andererseits, von dem er sich absetzen will. Nur durch Zufall entging das Frühwerk der selbstkritischen Zerstörung durch den Künstler nach seiner ersten Ausstellung in der Mannheimer Galerie Inge Ahlers 1957 – zuerst im Lager der Galeristin, später im Schutzraum des Museums. Kurz nach der Entstehung von Figur fand Cimiotti mit Wachs und Bronze „seine“ Materialien und im Verfahren des direkten Aufbaus der Form in Wachs sein ureigenes künstlerisches Konzept. Das Werkverzeichnis setzt 1955/56 mit Familiengruppe I und II ein - 36 und 48 cm kleinen, fragilen Bronzeplastiken, die in ihrer anthropomorphen Eindeutigkeit die Vorbilder der Klassischen Moderne sogar noch stärker anklingen lassen als die monumentale Mannheimer Urform Figur. Zugleich aber eröffnet sich Emil Cimiotti in und mit der Bronze endgültig den Weg zu einem eigensinnig wuchernden Lebenswerk im Zeichen des Informel.
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