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Abstraktion und Anschauung Anmerkungen zum Werk des Bildhauers Emil Cimiotti
”Meine Plastiken sind keine Kraftakte: sie ent- stehen ganz spontan und in ganz geduldiger Arbeit, sie sind kühl kalkuliert und nahezu tran- cehaft gesetzt. Wer glaubt, eines schlösse das andere aus ..., glaubt an die Logik von Worten." Emil Cimiotti, 1960
Dem Werk des 30 jährigen Emil Cimiotti bin ich ebenso wie den Arbeiten vieler anderer Maler und Bildhauer, die der bildenden Kunst damals neue Wege wiesen, in der kurzlebigen Galerie des hochgebildeten, kommerziell gänzlich untalentierten Jean-Pierre Wilhelm begegnet. Dieser scheue, von einem schweren Schicksal gezeichnete Mann, setzte Mitte der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre mit seinen, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich vermittelnden Ausstellungen in der Düsseldorfer "Galerie 22" neue Akzente, die zur Beginn der „Zweiten Moderne" - als Kontrastprogramm zur klassischen Epoche der Kunst unseres Jahrhunderts - entscheidende Impulse auslösten und im Endeffekt wesentlich zur Veränderung der europäischen Kulturlandschaft beitrugen. Zwar standen die sogenannten informellen Maler wie Schultze, Götz, Hoehme, Brüning, Schumacher (der sich damals mit seinen „Tastobjekten" im Grenzbereich zwischen Malerei und Plastik bewegte) oder auch Fautrier im Mittelpunkt; doch die jungen Bildhauer, deren Weg in die Zukunft zu weisen schien, wurden keineswegs vernachlässigt. Von ihnen machten der frühe Otto Herbert Hajek mit seinen „Raumknoten" und eben Emil Cimiotti mit seinen - die geschlossene Form auflösenden - Skulpturen den stärksten Eindruck auf den jungen Kritiker, ein Eindruck, der sich bis heute nicht verflüchtigt hat. Es ist ein im wörtlichen wie im übertragenen Sinne merkwürdiges Erlebnis, wenn man nach vielen Jahren, in denen man die Person eines Künstlers, den man für sich selbst und vielleicht auch für einige andere „entdeckt", dann aber aus den Augen verloren hatte und dessen wachsendes, sich veränderndes Werk man nur mit großen Unterbrechungen verfolgen konnte, mit Arbeiten konfrontiert wird, die in ihrer konzentrierten Ruhe, ihrer Farbigkeit und der relativen Geschlossenheit ihrer formalen Gestaltung scheinbar nur wenig mit dem Dynamismus, der rhythmisch bewegten Struktur der frühen Skulpturen zu tun haben. Doch der erste Eindruck täuscht. Auf den zweiten Blick erkennt man den übergreifenden geistigen, formalen und thematischen Zusammenhang des Gesamtwerks, eines Werks, dessen basso continuo trotz allen Variationen und vielfältigen Verwandlungen der gleiche geblieben ist. „Entelechie" ist das Stichwort, das einem dazu einfällt, die spirituelle Form, die sich im Stoff verwirklicht: „Geprägte Form, die lebend sich entwickelt", um es mit den Worten unseres allgegenwärtigen „Olympiers" auszudrücken. Cimiottis erste selbstständige Arbeiten entstanden, wie eingangs angedeutet, im Umkreis des Informel, dessen angebliche Formlosigkeit natürlich nur eine Behauptung war, da es Kunst ohne Form nicht gibt. Sie hatte nur einen anderen Namen: Struktur. Sie war nicht mehr geschlossen, sondern offen, tendenziell unbegrenzt, aber endlich. Wie die Bilder der Maler über den Rand hinaus, zeitweise auch in die dritte Dimension hinein drängten, so bewirkten die Skulpturen Emil Cimiottis, seine „bewegten Monumente” (Rolf Wedewer) mit ihren Buckeln und Höhlungen im Wechsel von Licht und Schatten, ihrem prozessualen Wuchern und Wachsen, der unruhigen Oberfläche ihrer aufgelösten Volumina, ihrer lebendig gleitenden Bewegung den Eindruck, Ausschnitte aus einem Kontinuum zu sein, das an der materiellen Grenze nicht endet, sondern sich darüber hinaus fortsetzt. Auch thematisch gibt es Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Phasen in Cimiottis künstlerischer Entwicklung. Immer wieder werden Vorstellungen von Büschen und Bäumen, Hügeln und Bergen beschworen, es entsteht eine Art autonomer „Landschaftsplastik" (Eduard Trier), die es vorher so nicht gegeben hatte, obwohl es, wie der Bildhauer sagt, Berge sind „die sich aus keinem Erdbeben ergeben, Bäume, die nie gewachsen sind, Wolken, die nie über uns hinwegziehen werden. Es sind Gebilde, die Berge, Bäume, Busen und Wolken sind. Die alles dieses zugleich sind, vieldeutig, auswechselbar, eines als das andere zu deuten." Solche Äußerungen verweisen auf die oft übersehene Tatsache, daß Kunst zwar immer mit Wirklichkeit zu tun hat, sie aber nicht abbildet, sondern ihr eine andere Wirklichkeit gegenüberstellt: die autonome, imaginierte Wirklichkeit der Kunst. In Cimiottis frühen, mittleren und späten Arbeiten ist die starre Grenze zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit aufgehoben. Beide Bereiche sind durchlässig füreinander, es entsteht - in unterschiedlicher Akzentuierung – ein labiles Gleichgewicht zwischen beiden. Äußeres und inneres Erleben sind nur der Anlaß, der die schöpferischen Kräfte in Bewegung bringt. Cimiottis Plastiken sind, wie Thorsten Rodiek treffend bemerkt hat, nahezu ausnahmslos „Metamorphosen". Das gilt sogar für die unter dem Eindruck der Krise des Informel entstandenen, überraschend realistischen „Stilleben“, die konkrete Gegenstände (Büchsen, Löffel, Teller, Knochen) vorführen, die aber nicht montiert, sondern gegossen sind. Diese Zwischenstufe blieb Episode. Wichtiger Waren andere Phasen. Ende der fünfziger Jahre wurden die Kompartimente wieder dichter. Es ist wieder möglich, weniger von ineinander verschlungenen Strukturen als vielmehr von Einzel-„Formen" zu sprechen, die aufeinander bezogen sind. Nicht mehr nur Leben und Wachsen, sondern auch Sterben und Vergehen bestimmen die Thematik, Titel wie "Scylla und Charybdis" geben deutliche Hinweise. Eine plastische Figur wie die „Daphne" (1961) zeigt die Verschmelzung früherer und späterer Gestaltungsprinzipien, die Bipolarität von Wachstum und Erstarrung und überdies, mit unwiderleglicher Anschaulichkeit, die Verbindung von offener und geschlossener Form, von Abstraktion und Figuration. Cimiottis Formulierungen werden, wie Eberhard Roters festgestellt hat, lakonischer und lapidarer, und nach der oben angedeuteten vorübergehenden Verunsicherung wird in den siebziger Jahren unter solchen Aspekten ein neuer Aufschwung erkennbar. Arbeiten wie die „Große Kreuzblume" (1971) sind eindrucksvolle Belege. Unter dem tiefen Eindruck, den das Tympanon des Meisters Gislebertus von Saint-Lazare in Autun auf den Künstler machte, („Figur für Meister Gislebertus", 1984, „Kniende", 1983) und wohl auch durch das Erlebnis menschlichen Leids in der nächsten Umgebung tritt das Todesthema auf bewegende Weise in den Vordergrund. Mehrere Jahre hindurch konnte Cimiotti nur noch zeichnen, ehe Arbeiten wie „Strukturen verletzt" oder „Mistral" (alle 1988-1990) als Dokumente einer wiedergewonnenen, wenngleich intensiv reflektierten Freiheit, Gestalt gewinnen. Wie sie sich in einem höheren Grad an offenkundiger „Introversion" (Roters) manifestiert, die strengeren, durchaus nicht mehr „informell" über die Begrenzung des Bildwerks hinausdrängenden Formulierungen sind der vorletzte Schritt auf dem Weg zu den farbigen Bronzen der letzten Zeit. Bronze ist für Cimiotti noch immer ein Material, „in das man hineinbeißen möchte", diskreditiert allein durch Massenproduktion, hohe Auflagen und eine vordergründig-dekorative Pseudo-Eleganz effektvoller Bearbeitung: eine Material-Ungerechtigkeit, durch die die Metall-Legierung „ihre Seele verliert", wie der Künstler sagt. Er begegnet dieser Gefahr, indem er die groben Nähte im Rohzustand stehenläßt, das Rauhe und Unregelmäßige nicht glatt macht, vielmehr das unverfälschte Material zum Gestaltungselement nobilitiert. Meist handelt es sich um Bodenplastiken, die thematisch den Erdformationen, den Gebirgsmotiven - die es auf ganz andere spirituelle, formale und inhaltliche Weise auch bei Beuys und später Ruthenbeck schon früh gab - der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre nahestehen, wenn auch auf einer anderen Drehung der Spirale. Es gibt nun keine Nebensätze mehr, die Arbeiten sind konzentrierter, das Wechselspiel von offener und geschlossener Form findet nicht mehr statt. Von entscheidender Bedeutung aber ist, daß die Farbe, die Cimiotti seit 1976 erst zögernd, dann immer entschiedener einsetzt, seit 1987 anstelle der plastischen Leerformen die Strukturen des jeweiligen Werkes bestimmt und wesentliche, formbestimmende Akzente setzt. Sie wird nicht im Sinne der alten Faßmalerei verwendet, die eine Skulptur lediglich an der Oberfläche farbig „faßte", sondern als gleichwertiges, mitbestimmendes Ausdrucksmittel unter Wahrung eines hohen Grades an Autonomie, wobei der Künstler - wie beim Umgang mit der Bronze - auf Resultate reagiert. Die für Cimiotti typische Balance von Spontaneität und Kontrolle wird auf diese Weise gewahrt. Die Verbindung von Natur und Kunst, Abstraktion und Gegenständlichkeit bei der Gestaltung dieser „Berge”, „Dünen”, „Pyramiden“, „Bergwände“, „Hochgebirge“ und geologischen Erdformationen verweist auf die Kontinuität im vielschichtigen Wandel der Arbeit in nun schon mehr als 35 Jahren. Für den 65-jährigen war die Jagd nach dem „Neuesten und Aktuellsten aus allen Ländern der Erde” nie ein Kriterium. Er ist ein Bildhauer, der seine Arbeit durchaus im Einklang mit der europäischen Entwicklung sieht: vom Meister Gislebertus über Rodin, Giacometti, den zeitweiligen Lehrer Zadkine bis hin zu den Zeitgenossen, dem frühen Hajek, Beuys oder Ruthenbeck. Aus diesem Werkverständnis heraus ist die unverwechselbare Originalität seiner Plastik Stufe um Stufe ohne dramatische Risse und Sprünge gewachsen. Mit T. S. Eliot könnte er von sich sagen: „In my beginning is my end - in my end is my beginning."
Karl Ruhrberg
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