Emil Cimiotti
 von Fritz Seitz

Gefüge aus Prozessen

Erster Eindruck
Merkwürdige Gebilde, spröde und ungeschönt. Unüblich auch diese bescheidenen Formate, die an 
Kleinplastiken" denken liessen, wär da nicht jener breite Gestus in den Ausformungen, der trotz vergleichsweise geringer Abmessungen diesen Objekten eine Art von Monumentalität verleiht. Das steht in schroffem Gegensatz zu jenen Riesenformaten, die den Eindruck erwecken, als sei für ihre Präsentation an Messehallen gedacht worden. Offenkundig hält sich dieser Mann fern von solchen Aktualitäten des Kunstbetriebs. Des weiteren fällt hier auf, dass sich eine beträchtliche Bandbreite der Ausdrücke erstreckt zwischen den älteren Arbeiten, ihrer Virulenz und den neueren, deren Verhaltenheit an natürliche Ausformungen im Verlauf langer Zeiträume denken Iässt. Dennoch wird der Betrachter von dem Eindruck innerer Stetigkeit berührt, mit der sich Cimiotti in der Tat über allen Wechsel und Wandel hinweg anhaltend auf sein Lebenswerk konzentriert. Und daher wohl auch die Aura einer gefestigten, künstlerischen Verfassung, die von dem Eindrucksganzen ausgeht.

Zum Werdegang des Künstlers
Emil Cimiotti, 1927 in Göttingen geboren, wurde schon bald nach 1945 durch die Entwicklung zur radikalen Abstraktion herausgefordert und damit auch zu eigenem Suchen gedrängt. Dabei brachte dem eigenwilligen jungen Künstler seine eminente Begabung während des Studiums neben manchem Ärger immer wieder auch Sonderstellungen ein. So zeigte sich in Stuttgart der Protagonist der 
Abstrakten" in Deutschland, Willi Baumeister, an seinen Experimenten interessiert und in Paris konnte er Mass nehmen an Ossip Zadkine, einem der bedeutenden europäischen Bildhauer der Nachkriegsjahre. Und dann, schon in den frühen Fünfzigerjahren, fand der junge Bildhauer den Weg zu Informel und Tachismus und bereits 1957, ein Jahr nach Eröffnung des Werkverzeichnisses, bekannte er:  Meine plastischen Vorstellungen haben sich weit entfernt von aller Bildhauerei, die ich kenne.“ Informel - das bedeutete ja programmatisch, die Form zu negieren. Es hiess Abkehr vom  Figürlichen" auch in den Abstraktionen, was zur radikalen Dekomposition führte zugunsten  offener“ Strukturen im Verlauf unvorgesehener Anstösse und Erregungen, eine Programmatik, die einem Bildhauer freilich kaum überwindbare Hindernisse entgegenstellte. Doch was da Cimiotti in den Weg trat, brachte ihm bald auch Gewinn. Denn gerade der Zwang, Umwege zu gehen, verhalf ihm auch zu Funden, die sein Werk bis heute auszeichnen. Während das Informel der Maler im wesentlichen Geschichte geworden ist, haben ihn seine Funde über die frühen Ansätze hinausgetragen, so weit, dass sich der Betrachter bis heute immer wieder mit bislang unbekannten Eindruckserlebnissen konfrontiert sieht.

Über Inhalte und Mittel
Betrachter neigen gegenüber künstlerischen Formungen zu voreiliger Deutung. Sie 
rechnen“ damit, dass Künstler von festen Vorstellungsbildern ausgehen oder von  Ideen", die ihr Vorgehen gedanklich untermauern und so im voraus den  Sollwert" des Auszuführenden festlegen. Die Meinung herrscht, dass zuvor ein  Inhalt“ da sein müsse, der durch die künstlerische Formung zur Darstellung komme. So zählen auch heute noch Allerweltsbegriffe wie Inhalt und Form zu den Eckpunkten der  Kunstreflexion. Doch schon im Informel, dem Cimiotti ja nahestand, wurden Vorhaben, Absichten und Leitbilder unterlaufen zugunsten der Formungskräfte, die sich erst während der Arbeit einstellen. Dazu C. selbst:  Alle Vorstellungen fallen von mir ab und ich vertraue meinen Kräften und dem, was unter meinen Händen entsteht." Und dann fügt er hinzu:  Von den Mitteln her kommt Neues in Gang". Und tatsächlich sind es die Mittel und Verfahren, welche die Erfindungen überhaupt ermöglichen und dann auch tragen. Daher dürfen sie hier unter keinen Umständen übergangen  werden.
Es geht da vom ersten Handgriff bis zur abgeschlossenen Plastik aus Bronze um einen langwierigen Weg in drei Phasen. Zum ersten werden Platten aus Bienenwachs solange erwärmt, bis sie weich und biegsam geworden sind, bis sie durch Kneten zwischen den Fingern zu dünnen Wandungen umgeformt und dann Stück für Stück an einem Skelett aus metallischem Gestänge zusammengefügt werden können. Kochen, Gären und Brühen kommen hinzu, wobei sich Krusten und Höcker, Blasen und Kavernen bilden. Und genau in diesen durch umständliche Vorkehrungen und den Widerstand des Materials verlängerten Arbeitsprozess nisten sich bei Cimiotti die Funde und Entdeckungen ein!
Zum zweiten: Hat das entstandene Gebilde alle Überprüfungen bestanden, wird es in einer Giesserei  mit einem Brei aus Schamotte ummantelt und das Ganze so lange erhitzt, bis das flüssig gewordene Wachs über Kanülen ausfliesst. Erst dann, in der dritten Phase, wird in die entstandenen Hohlräume die glühende Bronze gegossen und nach dem Abkühlen die Ummantelung zerschlagen. Damit ist der Rohguss freigelegt. Doch nun greift Cimiotti noch einmal ein. Mit viel Umsicht und Gespür werden die technisch bedingten Spuren des Giessverfahrens beseitigt, die Patina des Rohgusses absichtsvoll verstärkt und endlich, nach Rückkehr ins Atelier, die Haut der Bronze mit Lackfarben bearbeitet - in einem die künstlerische Formung noch verdichtenden, abschliessenden Prozess. Und schliesslich dies noch: alle Bronzen Cimiottis sind Unikate, da die Ummantelungen nach dem Guss stets zerschlagen werden und so eine Reproduktion in Serien ausgeschlossen ist.

Zu Titeln und Themen
Originale Künstler machen im Verlauf ihrer Arbeit einige Erfahrungen, die wohl kaum mittelbar sind. Obendrein wird ihr Tun dabei von Anstössen und Erregungen geleitet, die selbst für sie auf der Rückseite des Bewusstseins verbleiben. Auch wenn sie diesen Kräften vertrauen, so können sie doch nicht nach Belieben über sie verfügen. Sie kommen und gehen mit dem, was wir den künstlerischen Zustand nennen wollen.
Mit Sicherheit kann hier jedoch gesagt werden, dass Cimiotti sich bei seiner Arbeit nicht an die Erscheinungsmerkmale der uns umgebenden Natur hält. Wenn er dennoch seinen Plastiken Titel gibt, die Bezug nehmen auf solche Sichtmerkmale - Wolken-Bäume-Berge-Dünen - so bestätigt er damit zwar sinnfällige Assoziationen, bestreitet aber, dass es dabei um verbindliche Hinweise auf Inhalte gehe. Hingegen wird er wohl kaum Einwände gegen die Vorstellung erheben, dass er gewissermassen parallel zur Natur statt 
nach der Natur" arbeite. (Doch hierzu später mehr noch) Mit dem Wort Thema bezeichnen wir bekanntlich den leitenden Grundgedanken, der ein Handeln bestimmt. Das kann selbst bei radikal abstrakter Formung der Fall sein, sofern dort kalkulierte und systematisch wiederkehrende Ordnungsmerkmale erkennbar sind. Von all dem aber kann, wie schon gesagt, bei Cimiotti keine Rede sein. Vielmehr spricht er selbst von  offenen Strukturen", die irrational aus Impulsen entstehen, von denen er sich bei der Arbeit hat leiten lassen. Und fügt hinzu:  Nie gehe ich von Themen aus - es gibt nur scheinbare Themen, die bei der Arbeit entstehen."
Damit sind dem Betrachter Hindernisse in den Weg gelegt, die er nicht überwinden wird, solange er an gängigen Vorstellungsmustern festhält und auf Deutung wartet, statt sich auf das Schauen mutig einzulassen. Denn hier gilt vor allem anderen: Nähertreten - Schauen!
Zuerst nähertreten! Denn wer beim Betrachten dieser meist kleinformatigen Plastiken 
Abstand wahrt", wird zwar deren Konturen in groben Zügen erfassen nicht aber die für Cimiottis Arbeiten charakteristischen Binnengliederungen, aus denen die Umformen bei ihm erst  hervorgehen. Und dann schauen! Das wiederum heisst hier, zunächst zu versuchen, sich beim Hinsehen von eingeübten Dressuren freizumachen, von jenen Aspekten der Wahrnehmung, die aus der Vielfalt der Erscheinungen unwillkürlich und fast immer unreflektiert jeweils zweckorientierte Auswahlen treffen. Schauen hingegen heisst, diese Filter der Wahrnehmung abzulegen und sich den Eindrücken zu überlassen, die nun aus der Nähe und während des eingehenden Betrachtens zunehmend auf uns einwirken. Nur so schliesst sich uns die Dynamik auf, die Anstosskraft, die sich im Zueinander und Gegeneinander der Formen und Farben, im räumlichen Vor und Zurück und im Wechsel der Strukturen entfaltet. Dabei stossen wir dann auch auf die Spuren, welche die Arbeit des Künstlers bei der Formung hinterlassen hat. Cimiotti Iiess sie ja nicht nur einfach stehen, sondern hat sie durch Patinierung eigens noch betont. Daher vermitteln auch noch diese Merkmale Eindrücke, die uns im nachvollziehenden Betrachtungsverlauf in den Prozess hineinziehen, der zuvor den Künstler auf dem Weg seines Findens geleitet hat. So - im Schauen und nicht bei der gedanklich befrachteten, voreiligen Deutung - nähern wir uns dem Werk des Künstlers.

Strukturen - Prozesse – Modulationen
Der Begriff Struktur lenkt im Bildnerischen die Aufmerksamkeit auf das jeweilige Binnengefüge, das ja, wie schon bemerkt, als das auffälligste Charakteristikum dieser Plastiken gelten kann. Diese 
Strukturen“ stehen nun in einem schroffen Gegensatz zu den starren,  geometrischen" Gittern, die z.B. den Bau der festen Kristalle bestimmen. Cimiottis Gefüge entstehen ja aus dem spannungsvollen Widerstreit zwischen Impulsen, die einander entgegenwirken. Daher die seinen Formungen innewohnende Dynamik, daher auch die Ähnlichkeit mit jenen Erscheinungsformen in der Natur, die das pulsierende Leben in den Organismen ausbildet und die gleichfalls aus dem Ineinanderwirken widerstreitender Kräfte entstehen, aus Wachstum, Verschmelzung und Zerfall in der Aufeinanderfolge von Stirb und Werde.
Nie werden dabei - wie schon angedeutet - die Sichtmerkmale 
geschaffener" Natur nachgebildet. Und so drängt sich hier die Vorstellung auf, als sei im Künstler selbst die  schaffende“ Natur am Werk, obgleich er dabei sein Vergehen immer wieder Kontrollen und Reflexionen unterwirft, womit es aus den vom menschlichen Bewusstsein unabhängig verlaufenden Naturprozessen herausgelöst ist.
Dennoch: Cimiotti bestätigt die Ähnlichkeit mit Naturformen, die sich in seinen Gebilden eingefunden hat. Er tut es allein schon durch die Titel, die er ihnen - freilich erst im Nachhinein - gibt, fügt aber hinzu, dass er dabei das Vorübergehende, das Temporäre im Auge habe, nicht das Beständige. So sieht er die Parallele zwischen dem eigenen Formen und den Ausformungen im Naturgeschehen vor allem im Prozesshaften, das sich auch uns im nachvollziehenden Verlauf der Betrachtung entlang den Spuren seines Machens erschliesst. Man wird hier an den Satz von Norbert Whitehead erinnert: 
Die Natur ist ein Gefüge von Prozessen.“ Nun sind die Anstösse, die Impulse, die den Arbeitsprozess vorantreiben,  beständigem" Wechsel unterworfen, während sich im künstlerischen Zustand zugleich das Bedürfnis, ja der Drang nach innerer Einheit anmeldet. Dieser Widerstreit erzwingt  mit der Zeit" Annäherungen, Überlagerungen bis zur Aufhebung des Heterogenen im Prozess der Abwandlungen und wechselweisen Durchdringungen. Mit anderen Worten: am Ende enthalten Cimiottis  Strukturen" allseitige Übergänge - Modulationen an Stelle etwa der stereotypen Wiederholung eines Ordnungsprinzips, wobei diese sich im Gefüge des jeweiligen Gebildes bis an die Ränder fortpflanzen und von dort unabsehbar immer wieder in sich zurücklaufen und auf diesem Weg im Eindrucksganzen die Einheit hervorrufen. In diesen Prozess der Modulationen ist überdies auch noch die abschliessende Bearbeitung der Oberflächen mit Lackfarben involviert, die bisweilen die gesamte Sichtfläche der Plastiken überzieht. Dabei geht es nicht um ein Schminken und Pudern der spröden Bronzehaut, sondern um grösstmögliche Verdichtung des Formungsprozesses.

Die Werkskizzen
Cimiotti zeigt hier auch eine Anzahl kleinformatiger Zeichnungen. Wie eng plastisches und zeichnerisches Bilden in seinem Werk miteinander korrespondieren, verreit wieder eines der lapidar formulierten, stets aufschlussreichen Selbstzeugnisse des Künstlers: „Die Oberfläche einer Plastik, die "Haut“ einer Zeichnung: so will ich sie haben, dass man glaubt, den Puls darunter fühlen Zu können.“ Und nun versteht er besonders die Werkskizzen, von denen hier einige ausgewählt wurden, als den Sauerteig seiner Arbeit, als das Reservoir seiner Ideen. In krassem Unterschied zu den Plastiken werden sie spontan hervorgebracht als Notizen während des Lesens, auf der Bahnfahrt oder beim nächtlichen Erwachen. So bereichern sie in ihrer herben Frische das Werk für uns auf eine höchst reizvolle Weise.

Zu den neuen Arbeiten
Im Ausdruck früherer Arbeiten liegt oft eine Vehemenz, von der es einst hiess, dass darin der Wirbel selbst zum Bild geworden sei. Zu recht war daher auch von der barokken Schwungkraft dieser Plastiken die Rede. Dieses Merkmal tritt nun in den neueren Arbeiten zurück. Der Ausdruck des Prozesshaften ist verhaltener, subtiler geworden. Doch werden wir auch jetzt durch die Titel dieser Arbeiten in unserem Assoziieren bestärkt. Nun sind es exemplarische Teilstücke abgelegener Landstriche, an die wir, auch durch manchen dieser Titel, erinnert werden. Erinnert werden wir sodann an ein Ausspruch Goethes, wonach die Natur keinen Spass verstehe, sondern immer ernst und streng sei. Das Spröde, Ungeschönte, bisweilen geradezu Abweisende, das von jeher Cimiottis Arbeiten kennzeichnete, tritt hier noch deutlicher hervor. Kein Wunder, wenn man da und dort - wieder durch einen Titel bestätigt - an terra incognita denken muss, ja an die Oberfläche ferner, von Menschen nie betretener Himmelskörper. Jedenfalls drängen sich auch dann die Parallelen zu den Ausformungen im Naturgeschehen auf. Und so setzt sich Cimiotti auch nach wie vor den Anstosskräften aus, die ihm, unvorhersehbar, im Verlauf der Arbeit begegnen. Und folgt ihnen dann, ohne zurückzublicken, beherzt und entschieden. Doch ist er sich einer Wirkung einmal sicher geworden, verlässt er ebenso entschieden den eingeschlagenen Weg, damit - wie er sagt - nicht Routine und Können an die Stelle von Vision und Erfindung treten. So ist also das Werk nach wie vor in Bewegung - neu an jedem Tag. Dabei wird jedes ausgeführte, anschaubare und greifbare Gebilde, sei es eine Plastik oder eine Zeichnung, zu einem Mittler des Werkes.

Daher schliessen wir uns dem Werk auf, indem wir diesen konkreten Mittlern Schritt für Schritt nähertreten und uns darin üben, sie hell und wach ins Auge zu fassen.

Veröffentlicht in: Emil Cimiotti, “Neue Werke”, Galerie Timm Gierig, Frankfurt 1998.
Copyright und alle Rechte bei der Galerie Timm Gierig. Vielen Dank für die Erlaubnis zur Nutzung.


Prof. Fritz Seitz
(geboren 1926)
* ist ein deutscher Hochschulprofessor, Künstler und Autor von zahlreichen Schriften zur Gegenwartskunst
* u.a. Schüler von Willi Baumeister, besuchte dessen Klasse von 1948 bis 1953
* von 1962 bis 1992 Professur an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg