Daphne, 1961
Die zwei Meter hohe Plastik Daphne aus dem Jahr 1961 stellt einen Höhepunkt im plastischen Werk Emil Cimiottis dar - nicht nur weil sie eine der größeren Plastiken im Œuvre des Künstlers überhaupt ist, sondern vor allem auch weil sich in ihr sein bildnerisches Schaffen in geradezu exemplarischer Weise manifestiert. Die Arbeit entstand im Auftrag des Kölner Mäzens und Sammlers Gustav Stein, der auch das aus der griechischen Mythologie stammende Thema vorgab. Der römische Dichter Ovid erzählt in seinen Metamorphosen (1. Buch, 452-567) die Geschichte der Nymphe Daphne. Getroffen von einem goldenen Pfeil Amors, entbrennt der Sonnengott Apoll in heftiger Liebe zu Daphne. Doch diese, von einem genau das Gegenteil bewirkenden Pfeil Amors getroffen, wehrt sich gegen das Liebeswerben des Gottes. Auf der Flucht vor dem sie begehrenden Apoll fleht Daphne ihren Vater, den Flussgott Peneios, an: „Vater, ach hilf! [...] Wandle, verdirb die Gestalt, durch die zu sehr ich gefalle.“ Daraufhin erstarren ihre Glieder und sie verwandelt sich in einen Lorbeerbaum (griechisch dáphne = Lorbeer). Der Mythos ist in der Geschichte der Malerei wie auch der Bildhauerei immer wieder aufgegriffen und dargestellt worden. Berühmt ist etwa Gian Lorenzo Berninis 1622 bis 1624 geschaffene Mamorgruppe Apoll und Daphne in der Villa Borghese in Rom. Im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert haben sich unter anderem Renée Sintenis, Julio González, Henri Laurens, Hans Arp, Gerhard Marcks, Gerson Fehrenbach, Wolfgang Mattheuer und Markus Lüpertz des Daphne-Stoffes angenommen. 1 Der Daphne-Mythos steht für das Thema Metamorphose, und dieses ist Emil Cimiotti wie auf den Leib geschrieben - geht es in seiner Kunst doch immer um die elementaren naturhaften Prozesse des Werdens und Vergehens, um die permanente Veränderung und Verwandlung, das Transitorische, Vorübergehende. So machte Albert Schulze Vellinghausen 1960 die treffende Beobachtung, Cimiottis Werke erregten „die suggestive Illusion, sie seien aus grenzenloser Bewegung herausgegriffen“. 2 Und Eduard Trier stellte im Jahr darauf fest, „die wechselnde Metamorphose von menschlichen zu vegetativen Formen“ sei das “Leitmotiv“ dieses Künstlers, der sich der Aufgabe einer „transitorischen Plastik“ unterziehe. 3 Cimiotti war von Willi Baumeister geprägt, dessen Zuspruch in der Stuttgarter Akademie ihm Mut machte, seinen Weg in die Abstraktion zu gehen. Baumeisters im Zweiten Weltkrieg verfasstes, 1947 veröffentlichtes Buch Das Unbekannte in der Kunst wirkte auf Cimiotti und die junge Künstlergeneration wie eine Offenbarung. Unter dem Eindruck von Goethes Metamorphosenlehre entwickelte Baumeister den Gedanken, das Prinzip der Metamorphose liege den Lebensvorgängen der Natur ebenso wie aller künstlerisch-bildnerischen Tätigkeit zugrunde. Das Buch endet mit den Worten „Kunst als Gleichnis der strömenden Metamorphose wird Kunst = Naturerscheinungsform“. 4 Der Auftrag von Gustav Stein war für Emil Cimiotti eine Herausforderung und eine willkommene Gelegenheit, erstmals eine lebensgroße Arbeit zu realisieren. Rund 50 Plastiken hatte er bis dahin bereits im Wachsausschmelzverfahren hergestellt, einer Technik, die der Künstler seit 1955 und bis heute verwendet. Monatelang arbeitete Cimiotti intensiv an dem Projekt, wovon drei Bronzestudien zeugen. 5 Letztlich beschritt er aber bei der Ausführung der Großfigur einen gänzlich anderen Weg als in den Modellen. Dabei ging es ihm freilich keineswegs darum, den Mythos zu illustrieren. Daphne wurde 1970 auf der Weltausstellung in Osaka gezeigt und 1998 von der Skulpturensammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erworben. 6 Über einen sich kegelförmig verjüngenden Fuß wächst, leicht zur Seite geneigt, der Corpus der Plastik empor, deren unregelmäßiger Umriss sich einem Ovoid annähert. Aus der mächtigen Gesamtform stülpen sich große, mit Öffnungen versehene Blasen heraus. Die Perforierungen der plastischen Haut ermöglichen Ein- und Durchblicke; man kann tatsächlich stellenweise durch die hohle Form hindurchsehen. Kleinere, teilweise ebenfalls perforierte und dann wie Ösen wirkende Teilformen, die an Zweige, Blätter oder Finger erinnern, lösen sich von der plastischen Hülle und strecken sich nach allen Richtungen. Die Bronzehaut ist rau und schrundig, wodurch sich ein reiches Licht-Schatten-Spiel auf der Oberfläche ergibt. Die biomorphe Formensprache der Plastik öffnet ein Assoziationsfeld, dessen Weite die Komplexität und Vieldeutigkeit der Plastik spiegelt: Man mag an Terrestrisches ebenso denken wie an Kumuluswolken, an Vulkangestein ebenso wie an einen Baum. Fast scheint es, als pulsiere die Figur, als werde sie durch Gase von innen aufgebläht, als verändere sie im Wind kontinuierlich ihre Form. Stilistisch fügt sich die Plastik in das informelle Frühwerk Cimottis ein. 7 Der Künstler ging, wie Christa Lichtenstern gezeigt hat, dabei „nicht von der Erzählung des Mythos aus, sondern von den Formimpulsen seines Werkes, in welchem der Daphne-Stoff, so wie er ihn verstand, bereits in vielen Bronzen latent anwesend war. [...] Er läßt Daphne im Einzugsfeld von Erd- und Baumassoziationen erstehen. [...] Cimiotti gelangt somit zu einer Daphne-Konzeption, die übereinstimmend mit seiner allgemeinen transitorischen Formensprache das Thema der Verwandlung aus den eigenen bildnerischen Mitteln heraus als prozessuales Geschehen absolut setzt.“ 8
Anmerkungen: 1 Vgl. Gerhard-Marcks-Stiftung Bremen (Hrsg.), Daphne. Mythos und Metamorphose, Ausst.-Kat. Bremen 2009/10, Bremen 2009; Markus Lüpertz/ Durs Grünbein, Daphne-Metamorphose einer Figur, Ausst.-Kat. Bad Homburg v. d. Höhe/Bedburg-Hau 2005/06, Köln 2005.
2 Albert Schulze Vellinghausen, Cimiottis Bronzen“, in: Blätter und Bilder, 1960, H. 8, Mail Juni, S. 37.
3 Eduard Trier. Emil Cimiotti", in: Junge Künstler, Bd. 5, Köln 1961 (= Monographien deutscher Künstler der Gegenwart; 61/62), S. 59-76, hier S. 62 und S. 64.
4 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947, S. 175. Vgl. zur Wirkungsgeschichte von Goethes Metamorphosenlehre Christa Lichtenstern, Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Metamorphose. Vom Mythos zum Prozeßdenken. Ovid-Rezeption - Surrealistische Ästhetik - Verwandlungsthematik der Nachkriegskunst, Weinheim 1992.
5 Vgl. Dieter Brusberg (Hrsg.), Emil Cimiotti — Werkverzeichnis der Plastiken 1955 bis 1977, Hannover 1978 (= Brusberg Dokumente; 10). S. 64, Nr. 51-53 (Studie zur Daphne I-III) und S. 65, No. 54 (Daphne).
6 Vgl. Heiner Protzmann, „Metamorphische Plastik - die ‚Daphne‘ von Emil Cimiotti (1961)“, in: Dresdener Kunstblätter, Jg. 42, 1998, H. 5, S. 172-175; ders., „Skulpturensammlung“, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Jg. 27. 1998/99, S. 173-177, hier S. 173 f.
7 Für einen Überblick über das Werk Cimiottis vgl. Christoph Zuschlag, „Emil Cimlotti - Das plastische und zeichnerische Werk“, in: Theo Bergenthal / Joachim Stracke (Hrsg.), Emil Cimiotti, Heidelberg 2005, S. 7-17.
8 Christa Lichtenstern, Ossip Zadkine (1890-1967). Der Bildhauer und seine Ikonographie, Berlin 1980 (= Frankfurter Forschungen zur Kunst; 8), S. 182.
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