Emil Cimiotti
 von Christa Lichtenstern

Christa Lichtenstern: Cimiottis „Hommagen“

Der Vorgang, dass ein BIldhauer einem anderen Künstler, Dichter oder Philosophen dezidiert eine Hommage widmet, wird im 20. Jahrhundert vermehrt zu einem Akt der eigenen Positionsbestimmung. 1  In die Ehrung
des Geistesverwandten gibt der Künstler sein Bestes hinein. Seit Rodin, der in seiner »Höllenpforte« einen jahrzehntelangen Dialog mit Dante aufnimmt, wird das Phänomen besonders greifbar. Jacques Lipchitz
huldigt Thodore GricauIt. Ossip Zadkine fühlt sich in Rodin, Apollinaire oder Paul Eluard ein. Henri Laurens
ehrt auf besondere Weise Max Jacob oder Jean Goujon. Andreu Alfaro widmet eine umfangreiche Werk-
gruppe Goethe und seinen Zeitgenossen. Eduardo Chillidas Hommagen reichen von Juan de la Cruz bis
Heidegger, von Augustinus bis Bach, von Braque bis Giacometti und vielen anderen mehr.
Nicht weniger vielfältig wird Jürgen Brodwolfs Werk durch Widmungen bestimmt.  2  1958 organisiert Cécile Goldscheider im Muse Rodin eine ganze Skulpturenausstellung zu dem Thema »Hommage ä Brancusi«.
   Auch in Emil Cimiottis Werk findet man vergleichbare Annäherungen und Würdigungen. Obgleich bei ihm
die Titel stets erst im Nachhinein gegeben werden, bezeugen die entsprechenden Werke bestimmte nachvollziehbare Zuwendungen und darin sein Selbst- und Werkverständnis. Diesen Zusammenhängen nachzugehen, sei im Folgenden an wenigen ausgewählten Beispielen unternommen. Dabei wird bewusst die Chronologie des Werdegangs beibehalten, gilt es doch die bildnerischen Anliegen genau zu berücksichtigen,
um aus ihnen heraus die je besondere Art seiner Hommagen verstehen und würdigen zu können.

Zellenwald (Hommage á Max Ernst), 1973
In dieser Bronze (Abb.) und verwandten Arbeiten fand Cimiotti nach einem kurzen, aber für ihn notwendigen
Wechsel zur »Neuen Figuration«  3  und deren Sandgussverfahren nunmehr zur vertrauten Technik in
Wachs zurück. Rückblickend notiert er 1970: »Ich hatte den Gewinn, in größeren Formen denken zu lernen.
Jetzt aber merke ich, dass meine Phantasie durch die festeren Formen eingeschnürt wird. Ich greife, in anderer Form, die alten Techniken auf, arbeite wie zuvor in Wachstechnik an offenen Gebilden und sogleich setzt wieder eine Fülle von Themen und Vorstellungen ein.«  4
   »Zellenwald (Hommage á Max Ernst)« ist so ein »offenes Gebilde«, durch das die Fantasie frei und spielerisch hindurchgreift und dabei, so steht zu vermuten, Assoziationen zu Waldbildern von Max Ernst
(1891-1976) entdeckt. Unverkennbar bindet Cimiotti die offenen Strukturen seiner »Zellen«-Formen in den Gesamtverband einer großen umschließenden Wölbung ein. Vom Boden - ohne Plinthe - direkt aufsteigend, wachsen, dicht beieinander, hinter- und übereinander gestaffelt, Raumparzellen empor. Sie zeigen betont durchmodellierte Ränder, die wie Lichtsäume rhythmisch schlingernd ineinandergreifen. Ihr Linienspiel
umschreibt eine in sich konsistente Rhythmik. Sie trägt die Raumschluchten wie aufbrandend in ständiger Bewegung nach außen und lässt ein Inneres erahnen, das nirgends zur Tiefe hin betretbar erscheint.
Dennoch ist es voller Leben.
   Mit »Zellenwald« bringt Cimiotti ausdrücklich Max Ernst eine Hommage dar. Er ehrt ihn als »Wald-Erfinder«. Zunächst könnte Cimiotti solche Bilder von Max Ernst aus den späten 1920er-Jahren im Blick gehabt haben,
die aus strukturellen Reihungen (Gräten, Blättern usw.) ganze Waldfronten erstehen lassen. Im engeren
Sinne verweisen jedoch die beschriebenen Charakteristika seines »Zellenwaldes« - enges Beieinander der Raumeinblicke, verwobene Rhythmik der Linienführung, fleischige Dichte der vegetabilischen Formen - auf
die späteren wuchernden Blätterdschungel-Bilder von 1936 bis 1938.  Am nächsten käme das Gemälde
»La Joie de vivre« von 1936 (Abb., nur im Buch).  5  Max Ernst bleibt hier freilich figurativ. Damals noch
eng mit der Gruppe der französischen Surrealisten um Andre Breton (1896-1966) verbunden, geht es ihm
mitsamt seiner im Wald zwischen Pflanze, Tier und Mensch irrlichternden Mischwesen um die Sichtbarmachung einer bedrohlichen, sexuell aufgeladenen psychischen Wirklichkeit. Metamorphose als traumatisches Gegenbild
zur Wirklichkeit. Seine »böse Vegetation«  6  sucht den Betrachter von Siegmund Freud her über sich selbst aufzuklären.
   Derartige Ambitionen lagen Cimiotti gänzlich fern. Sein »Zellenwald« entstand gleichsam auf dem Weg hin zur plastischen Konzeption seines »Ständehausbrunnens« in Hannover (1974-1976)  7  und bezeugt von
daher schon im Keim eine neue und gegenstandsnahe Wahrnehmung der Natur. Im ausgeführten Brunnen wird
der Bezug zu Ernsts Blätter-Verismus augenscheinlich. Auch Ernst stellt 1936 gern das Rippenwerk heraus. Cimiotti formt seinerseits die Unterseite von breitlappigen Blättern ab und kehrt sie nach oben. Er breitet einen ganzen Blätterteppich aus, der sich im Verein mit den hervorstürzenden Wassern und dem
Licht als atmosphärische Einheit darbietet. Es bleibt dem vorbeieilenden Passanten überlassen, die
opulenten Blätter sich gleichsam im Wasser und im Licht entfalten und darin eine Schnecke sich vergnügen zu sehen. »La Joie de vivre« pur?
Cimiottis Blättertableau lässt hier die Ernst'sche Diabolik weit hinter sich. Gleichwohl teilt er, grundsätzlich
gesehen, mit Ernst die Neigung zu Metamorphosethemen, die Liebe zur Dichtung, die Zuwendung zum Hintersinnigen und die permanente Infragestellung der Wirklichkeit.

Nach Pontormo (Rignana-Folge), 1979
Im August 1979 notiert sich Cimiotti in sein Tagebuch: »Auf dem Rückweg vom Einkaufen schnell noch einen
Blick auf den Pontormo in S[anta] Felicita, der von solcher Klarheit ist, dass es mir jedesmal wieder den Atem verschlägt.«  8  Eben diese Erlebnisdichte und Vertrautheit mit der Vorlage ging in eine Zeichnung ein, die er
1979 nach dem Verkündigungsengel in der Cappella Capponi der Florentiner Kirche Santa Felicita schuf
(Abb.)9 Während über dem Altar Jacopo da Pontormos (1494-1557) Hauptwerk, die »Kreuzabnahme«
(1525-1528) prangt, erwartet den Besucher auf der angrenzenden Westwand, nicht weniger kühn, die Szene der »Verkündigung« (Abb., nur im Buch)  10  Pontormo füllt hier die schmalen Flächen zu beiden Seiten eines Wandgrabes. Er beschränkt sich auf die nahezu lebensgroße Darstellung der Protagonisten und lässt ihre Begegnung auf selten sublime Weise aufleuchten. Maria, der die Kapelle geweiht ist, zeigt sich von dem unerwarteten, sie von rückwärts treffenden Erscheinen des Engels Gabriel überrascht und fasziniert zugleich.
Sein Licht sammelt sich nochmals auf ihrem blassen Antlitz mit seinem eigentümlich modernen, konzentrierten, aufmerksamen Blick. Ihre verschattete rechte Gesichtshälfte scheint bereits vom geahnten
Leid, das am Altar dargestellt ist, wie überflogen.

Dieser schicksalhaften Berührtheit ist der Engel enthoben. Er ist ganz Bote. Aus Goldgelb- und Orangetönen aufleuchtend, erscheint er wie in die Lichthülle seiner göttlichen Herkunft eingebettet. Im Wirbel des
Ankommens nur eben verhaltend, wird seine Sphäre durch den hellroten Mantel angezeigt, der sich hinter ihm aufbauscht. Durch die Bewegtheit des Mantels veranschaulicht Pontormo nach antiker Tradition das Ereignis der noch anhaltenden Ankunft. Das Motiv des aufwehenden, raumhaltigen Mantels inszeniert Pontormo, dessen Nähe zu Michelangelo  11  hier besonders durchschlägt, vollends auf plastische Weise: Die Hauptrundung des Mantels hinter dem rechten Arm des Engels wird durch die umschließende Gebärde seiner Arme und durch weitere rundende Draperielinien fortgesetzt. Diese ganze Gestik des Umkreisens verdichtet Pontormo nochmals auf unnachahmliche Weise in der sphärischen Geschlossenheit des Kopfes. Der Engel wendet sich, im Sprechen begriffen, Maria zu, die ihn leicht überragt. Zugleich ist er im verlorenen Profil und dem »himmelnden Blick«  12  seiner göttlichen Sphäre zugehörig. Das verlorene Profil forciert den Eindruck einer großen, einheitlichen, geschlossenen Form. Sie wird noch zusätzlich durch die abgerundete Kopf- und Haarbildung betont.
   Eben diese letztlich plastische Stringenz der formalen Durchbildung dürfte Cimiotti im Auge gehabt haben, als
er von Pontormos besonderer »Klarheit« in Santa Felicita sprach. Dass und wie sich im Kopf die gesamte
sphärische Bewegungsanlage des Engels konzentriert und steigert und solcherart als ein in sich kreisendes Rundgebilde vom Himmel abhebt, dieser Pontormo'schen Sichtweise geht der Zeichner Cimiotti auf seine Weise nach: Aus vielfach in sich kreisenden, locker sich kreuzenden Strichfolgen lässt er ein ovoid
gedehntes Kopfvolumen aufsteigen. Die noble Profillinie fließt bei ihm ähnlich. Das markante Ohr und die weiß gehöhte Wangenspur heben sich ebenso deutlich ab. Anders als bei Pontormo werden bei ihm die rot unterzeichneten Haare in die Schädelkalotte einbezogen. Auch treten bei Cimiotti die überdehnten Sehnen,
die wie Stützen den Hals tragen, unheimlich stark hervor. Dazu passt, dass das Auge nicht mehr »himmelt«. Dieser »Engel« ist irdischer geworden. Er ist heute in Cimiottis Bildhauerwerkstatt angekommen. Der Kopf
wird zur plastischen Entität für sich und bleibt dennoch berührt und geadelt von der einzigartigen Haltung
und Ausstrahlung des manieristischen Vorbildes.

Figur (für Meister Gislebertus), 1984
Die Figur bildet mit ihrem Standort, dem nördlichen Seitenschiff des Braunschweiger Dorns, eine selten
geglückte Einheit: Hier, unter hohen Gewölben, lässt das durch große Fenster hereinflutende Licht jede der schlanken Säulen mit ihren gedrehten Rundstäben besonders dynamisch hervortreten (Abb.). Diese Säulen sprechen mit. Der »Kernplastik« ihrer Schäfte ist durch die Drehung der Rundstäbe ein Bewegungsmoment eingegeben.
Von hier aus, das heißt aus der Verbindung von Festigkeit und immanenter Bewegung wächst Cimiottis großer Figur ohne Kopf und Arme von ihrer lichten spätgotischen Raumhülle her eine zusätzliche Ausdrucksdimension
zu. Die Strebetendenz dieses Torsos, schmal und hoch in die Vertikale gezogen, erscheint wie eingefügt in ein unsichtbares tektonisches Rahmenwerk. Das dynamische Moment hingegen spricht sich in der gehaltenen
Aktion des Niederkniens aus. Die Transitorik des »in die Knie Gehens« ist das eine, das Streben in die eigene Aufrechte hinein das andere. Diese Divergenz der Bewegungen bezieht ihre Spannung nicht zuletzt auch aus
dem Inhalt: Obgleich es den Körper demütig herunterzieht, trägt er sich aufrecht aus eigener Kraft. Er ist zur
Höhe verpflichtet. Demut und Sehnsucht nach Freiheit bestimmen diese Figur gleichermaßen. Dabei bleibt der Körper auffallend licht. In der Beinpartie gewährt das Gestänge der »Röhrenknochen« Transparenz und
»Einblick«.  13  Auch der gelängte Rumpf wirkt leicht. Wie ein luftiges Gehäuse erscheint er aus
durchbrochenen Segmenten aufgebaut.
   Als die Arbeit beendet war, sah sich Cimiotti von der Gestik her an den Habitus bestimmter Figuren des mittelalterlichen Meisters Gislebertus in St. Lazare in Autun erinnert (hier tätig etwa von 1120-1135). Tatsächlich sind Parallelen gegeben. Gislebertus' Figuren sind auffallend überlängt und oftmals in den Knien betont gebeugt. Seine Tätigkeit ist gänzlich an die Kathedrale St. Lazare gebunden, wo er den Figurenschmuck am
Nordportal (nur in Fragmenten erhalten), am Westportal und an den Kapitellen im Inneren schuf. Dass er seine Signatur zu Füßen des großen Christus im Westen in den Stein meißelte,  14  ist für die Zeit höchst ungewöhnlich. Hier im Westen war das alles beherrschende Thema das Weltengericht.
Im Zentrum thront der drei Meter hohe Weltenherrscher, dessen ganze Figur randnah seine Mandorla füllt. Ihr Strahlenglanz wird von vier Engeln getragen, davon die oberen herbeifliegen und die unteren stehen. An einem
von ihnen, zur Rechten Christi, veranschaulicht Gislebertus
(mit der für ihn charakteristischen Gabe zur Empathie) besonders die Mühen des Tragens: die linke Schulter des Engels ist hochgezogen (Abb., nur im Buch). Mit ganzer Kraft stemmt sich der Engel an die Mandorla, seine Knie sind eingedrückt und der Oberkörper steil erhoben. Hier scheint in Streckung und gleichzeitiger Beugung einmal mehr und exemplarisch schön jener Gestalttypus auf, den Cimiotti bei sich wiedererkannte. Zu ihm bemerkt Thorsten Droste im Blick auf den Meister von Autun: »Alle Gestalten sind über die Maßen gestreckt. In ihrer manieristischen Überlängung erscheinen sie entkörperlicht und dadurch einem Bereich zugehörig, der nicht
mehr von dieser Welt ist.«  15 Der Bezug zu Gislebertus kommt bei Cimiotti nicht von ungefähr. Im Gespräch
mit dem Künstler wurde rasch deutlich, wie gut er mittelalterliche Skulpturen kennt. Man muss ihm genau
zuhören, wenn er wie beiläufig bestimmte Werke seiner Wahl erwähnt. So etwa die »Pietä« in der Jakobikirche
von Goslar, die der spätgotische Bildhauer Hans Witten von Köln (um 1470/80 - nach 1522) schuf.  16
Besonders wichtig sind Cimiotti die Bernwardstüren im Dom von Hildesheim (1015 entstanden). An der inneren Beweglichkeit ihrer Bronzefiguren, zum Beispiel in der Szene der Vertreibung aus dem Paradies,  17
kann er sich nicht sattsehen. Überdies spricht Cimiottis Wertschätzung mittelalterlicher Skulptur nicht
zuletzt aus seinen kleinen »Tödlein-Bronzen« (2002)  18  die ihrerseits auf memento-mori-Figuren der
frühen Neuzeit rekurrieren.
   Woher rührt diese Vorliebe, um nicht zusagen Affinität? Kann es sein, dass Cimiotti in den Figuren der
christlich-mittelalterlichen Ausdrucksskulptur auf jene Lebensfülle und Wärme trifft, die er seinerseits als
abstrakter Künstler sich ebenfalls zu erhalten sucht?  19 

Große Düne (für C. D. Friedrich), 1992
Es geschieht nicht so oft in der Skulptur der Gegenwart, dass sich ein Bildhauer mit Caspar David Friedrich
(1774-1840) befasst. Wieland Förster (geb. 1930) näherte sich 1974 in seinem »Rügentagebuch« auf
fulminanten Zeichnungen bestimmten Landschaftsmotiven von Friedrich an. Der Lübecker Bildhauer
Claus Görtz (geb. 1963) schuf ein umstrittenes Friedrich-Denkmal aus Bronze und Stahl, das 2010 in Greifswald eingeweiht wurde. Aber innerhalb der Abstraktion? Hier kenne ich nur Cimiottis Spätwerk
»Große Düne (für C. D. Friedrich)« (Abb.). Obgleich der Titel erst im Nachhinein gegeben wurde, lässt sich
gerade an diesem Werk gut Cimiottis besondere Verbundenheit mit dem Romantiker nachvollziehen.
   In der neuen Technik der Bronzebemalung gingen der unbemalten »Großen Düne (für C. D. Friedrich)«
seit 1991 Arbeiten voran, die als pars pro toto Einblicke in strömende Erd- und Wasserbewegungen boten
(vgl. »Sierra Nevada« (1991), »Fluss/Brücke« (1991), »Terra incognita« (1991) und weitere Bergmotive).  20
Hier schlossen sich jeweils primär diagonale oder horizontale Schichtungen zur Komposition zusammen.
1992 folgten dann Arbeiten, »Düne« betitelt,  21  in denen die Kantenbildung bewegter und die gemalten Lineamente schlingernder werden. Besagte Werkgruppe, in der Cimiotti in großen Flächenverbänden
schichtete und rhythmisierte, verdichtet und steigert sich nochmals in »Große Düne (für C. D. Friedrich)«.
Zu Recht hat dieses herausragende Werk einen Ehrenplatz in der bedeutenden
Dresdner Skulpturensammlung erhalten.
Aus einer großen, nahezu quadratischen Grundfläche (196 x 190 cm) steigen, aus vier Platten gefügt, die »Erddünen« in vielfacher Reihung auf. Das Staccato der zerklüfteten Bahnen faltet sich rhythmisch in große, ineinander greifende Lichtkeile auf. Geht der Grundzug von unten gesehen von rechts nach links aufwärts,
so ziehen im Gegenzug ab dem oberen Drittel die Hauptbewegungen von oben links nach unten rechts durch.
In diese bewegten Richtungswechsel ist ein Kreuz eingezogen, das sich durch die Lagerung der vier Platten
ergibt. Es wird bewusst offengelegt. Sein Lineament hält und ordnet die Komposition.
   Worin liegt das tertium comparationis zu Caspar David Friedrich? Sicher nicht in der Thematisierung einer
Düne. Friedrich hat dieses Motiv nur selten und eher marginal behandelt. Vielmehr interessiert Cimiotti nach eigener Aussage an dem Zeichner und Maler Caspar David Friedrich die Klarheit und Stringenz seines
Bildaufbaus. Er bewundert, wie sorgfältig der Romantiker in Reihen komponiert. Ihn fesselt Friedrichs »Konsequenz«  22  Mit dieser Aufmerksamkeit für Friedrichs bündige Bildgestaltung trifft Cimiotti den
Romantiker im Kern. Wie Helmut Börsch-Supan kürzlich darlegte, sind Symmetrie und Reihung
»die wichtigsten Organisationsprinzipien von Formen, deren sich Friedrich bedient. Reihung vermittelt die Vorstellung eines Zeitablaufes und damit seine Vergänglichkeit, wogegen die feierliche Symmetrie Dauer repräsentiert, ja etwas von Ewigkeit ahnen lässt. Diese Kompositionsprinzipien hat Friedrich erst allmählich bewusst einzusetzen gelernt.«  23  Den Part der Symmetrie übernimmt in Cimiottis Hommage auf
zurückhaltende, aber effiziente Weise die Kreuzform. Darüber breitet sich in gedrängter Fülle das Prinzip der Reihung aus. Ein großer Atem übergreift strukturierte Räume.
Die aufgeschichteten »Dünen« durchziehen das quadratische Tableau zu Füßen des Betrachters in zwei Richtungen. Hier wird nirgends additiv gehäuft, sondern dynamisch gerichtet und in großen Zügen mit und gegeneinander rhythmisiert. Dabei kommt die Imagination einer sich unendlich fortsetzenden inneren Weite
auf. Ähnliches gestaltete Caspar David Friedrich erstmals, als er 1811 im »Kreuz im Riesengebirge« die Gebirgszüge wie Meereswellen in die Tiefe staffelte. Andernorts ließ er durch getreppte Wolkenschichten die Unendlichkeit eines von Gott erfüllten Himmels erahnen. Immer geht es ihm um die Magnitude einer unermesslichen Raum-Evokation.
   Cimiotti sucht in »Große Düne (für C. D. Friedrich)« jenseits religiöser Gewissheiten jedwede Grenzen zu überspielen. Es gelingt ihm, seine Raum-Strukturen aus den »Machensvorgängen«  24  heraus mit
Welt-Gehalt aufzufüllen. Allein mit den Mitteln der skulpturalen Abstraktion, mit Rhythmus, Symmetrie und
Reihung, tritt er mit der Friedrich'schen Bildorganisation in einen Dialog, der sich letztlich in der Suggestion
des Sublimen trifft.  25 

Für Heraklit (Strukturen), 2002
Die Hommage »Für Heraklit (Strukturen)« scheint im Titel bereits alles Nötige zu ihrem Verständnis zu
sagen (Abb.). »Strukturen« als Leitmotiv seiner Arbeit handhabte Cimiotti von Beginn seiner künstlerischen Selbstfindung an. Ob im Abflattern der »Baumkronen«, in den Zerklüftungen seiner »Bergmassive«, in den Faltungen seiner »Landschaften«, stets sind es Strukturen, die sich durch den Rhythmus seiner plastischen Modulationen als gebändigte Bewegung mitteilen. Als Gliederungsprinzip lenken sie die Seherfahrungen und begründen die halbgegenständlichen Assoziationen zu Bäumen, Bergen und Landschaften.
   Anders in dieser Hommage. Struktur wird hier zum philosophischen Thema. Unter den Auspizien des Vorsokratikers erweitert sich »Struktur« zur Denk- und Erkenntnisfigur. Die Bronze zeigt, auf einem Stahlstab montiert, in strikter Horizontale einen locker gewirkten Formenverband. Der Raum fließt mäandernd von
außen herein und von einem unsichtbaren Inneren wieder heraus. Formenbewegung und Raumöffnung
bedingen einander. Im Rahmen dieser Ausgewogenheit erscheinen alle Formen »irgendwie« miteinander
verwandt und wie im status nascendi begriffen. Ihre Oberflächen, ihre Ränder und ihre zungenähnlich abgestreckten Formenden unterstreichen in ihrer Dynamik den Eindruck fortgesetzten Quellens - eines Quellens allerdings, dem ebenso ein Einsaugen entspricht. Dieses fluktuierende Miteinander von Raum und Form ebenso wie die gleichzeitige Anwesenheit von Innen und Außen bilden die zwei Aspekte der Plastik, die gut mit Heraklits Erkenntnislehre zusammengehen. So heißt es bei Heraklit zum einen in Fragment 12 nach dem bekannten
Diktum panta rhei »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere
Wasserfluten zu.«  26
   Daneben veranschaulicht Cimiottis Werk als eine in sich geschlossene Gestalt die Gefasstheit von
Gegensätzen (Innen/Außen; Raum/Form). Darin berührt sie sich mit dem, was Heraklit grundsätzlich, von
der gegenstrebigen Vereinigung sagt, die im »Logos« wirkend, auf Einheit dringt.  27  So deuten die im Titel angesprochenen »Strukturen« letztlich im Geiste Heraklits auf die großen philosophischen Themen von Sein (gefasst in gegenstrebiger Vereinigung) und Werden respektive Zeit (Fluss-Metapher).
   Mit der vorliegenden Hommage und ihrer Ausarbeitung der Struktur als Erkenntnisfigur reiht sich Cimiotti völlig selbstverständlich in die reiche moderne bildkünstlerische Rezeptionsgeschichte Heraklits ein.
Sie wurde, wie hier nur angedeutet werden kann,  28  durchweg von Friedrich Nietzsche inspiriert, in der
bildenden Kunst am ehesten von den Surrealisten weitergeführt: Salvador Dali (1904-1989), Andre Masson
(1896-1987), Hans Arp (1886-1966) und dazu die Vordenker Andre Breton, Louis Aragon (1897-1982),
Georges Bataille (1897-1962) und ab 1924 Paul Eluard (1895-1952) - sie alle zeigen sehr präzise Verbindungen. Dabei entdeckt jeder seinen eigenen Heraklit. Breton, Aragon, Eluard sehen ihn in Bezug zur Dialektik Hegels. Masson und sein Freund Bataille begeistern sich für die heraklitsche Zeit-Erschließung
(panta rhei), Dali sieht im Diktum vom weinenden Heraklit seinen Agnostizismus bestätigt. Arp stützt seine Präferenz des Zyklischen und sein Proportionsdenken auf Heraklit. Auch das Spätwerk von Otto Greis
(1913-2001), einem der Gründungsväter des deutschen Informel, ist nicht ohne Heraklit und Parmenides zu
denken. Ebenso hat sich Eduardo Chillida (1924-2002) als Bildhauer und Grafiker auf Parmenides bezogen.
Unter all diesen expliziten Heraklit-Ehrungen und Bekenntnissen zu den Vorsokratikern behauptet sich
Cimiottis Plastik aus ihrem spezifischen inventiven Umgang mit Form und Raum.
   Abschließend bleibt festzustellen: Die Hommagen, die hier behandelt wurden, entstammen einer relativ
schmalen Werkgruppe, in der Cimiotti bis in die Titelgebung hinein Dialoge mit älteren Künstlern
aufgenommen hat. Ihnen wäre noch »Afrikanisch I. Später Gruß an Willi Baumeister« (2002) zur Seite zu stellen, eine Bronze, die mit ihren präzisen Verbindungen zu dem verehrten Stuttgarter Meister von Uwe Rüth eingehend besprochen wurde.  29
  
Ich denke, man darf Cimiottis Hommagen als sehr eigene, poetische Wegmarken kennzeichnen. Sie legen
durch sein Werk exemplarische Linien, ja geistige Konstanten frei. Diese lassen sich auf unterschiedliche Leitbegriffe bündeln: So trägt sich in kunstgeschichtlicher Hinsicht die Linie »Manierismus/Surrealismus (Pontormo/Max Ernst)« durch. Ein je eigenes Dialogfeld bilden sodann das »Mittelalter« und die
»Frühromantik (im Sinne von Caspar David Friedrich)« und übergreifend gibt sich als tieferer Zusammenhalt Cimiottis Schöpfung von »Strukturen (Heraklit/Baumeister)« zu erkennen - Strukturen, die Raum und Form
immer bewegt eins ins andere deuten.
   Für alle Beobachtungen aber gilt, was der Künstler generell einmal zu seinen Titeln vermerkte: »Wird aber ein Titel gewählt, so sollte dieser Annäherungen, Anspielungen enthalten, nicht aber Erklärungen.«  30


Anmerkungen:

1  Die vorliegende Studie wurde wesentlich durch den Austausch mit Emil Cimiotti bei meinem letzten Atelierbesuch am
3. März 2012 gefördert. Für unsere Gespräche danke ich Herrn Prof. Cimiotti sehr herzlich. Außerdem geht mein herzlicher Dank
an Dr. Birk Ohnesorge, Galerie Ohse, Bremen. Er hat mit seinem Engagement diesen Text auf den Weg gebracht.

2  Das Thema der bildhauerischen »Hommage« wurde von der Verfasserin verschiedentlich bearbeitet in: Chillida und
die Musik. Baumeister von Zeit und Klang, Köln 1997; dies.: Der Bildhauer Chillida und Hölderlin, in: Bad Homburger
Hölderlin Vorträge 1998-2000, Bad Homburg v. d. H. 2002, S. 7-24; dies.: Im Zeichen der Freiheit. Der spanische Bildhauer
Alfaro und Goethe, in: Andreu Alfaro, Ausst. Kat. Casa di Goethe Rom, Rom 1999, S. 15-76; dies.: Jürgen Brodwolf.
Huldigung an Hans von Maräes, in: Jürgen Brodwolf - Figurenräume, Ausst. Kat. Marburger
Universitätsmuseum/Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen, Heitersheim 2001, o.P. dies,: Jürgen Brodwolf: Hommage
an Oskar Schlemmer, in: Brodwolf, Ausst. Kat. Galerie Valentien Stuttgart, Stuttgart 1996.

3  Vgl. Christoph Zuschlag: Emil Cimiotti. Das plastische und zeichnerische Werk, in: Theo Bergenthal und Joachim Stracke (Hg.):
Emil Cimiotti, Heidelberg 2005, S. 7-17, hier S. 12.

4  Zitiert nach Zuschlag 2005 (wie Anm. 3).

5  Werner Spies und Sigrid und Günter Metken: Max Ernst Œuvre-Katalog, Bd. 4, Werke 1929-1938, Köln 1979, Nr. 2263. Hierzu eingehend: Ursula Lindau: Max Ernst und die Romantik. Unendliches Spiel mit Witz und Ironie, Köln 1997, S. 55 ff.

6 Günter Metken: Zwischen Europa und Amerika, in: Werner Spies (Hg.): Max Ernst, Retrospektive, München 1979,
S. 79-96, hier S. 83.

7  Zum Hannoveraner Ständehausbrunnen vgl. Zuschlag 2005 (wie Anm. 3), S. 12.

8  Zitiert nach Dieter Blume und Dieter Brusberg: Emil Cimiotti. Ausgewählte Zeichnungen 1957 bis 1984
(Brusberg Dokumente 13), Berlin/Hannover 1984, S. 102.

9  Als Vorlage diente Cimiotti eine Kunstpostkarte, freundliche Mitteilung des Künstlers vom 19.5.2012. Die hier abgebildete Postkarte (Edizioni Mandragora) verdanke ich dem freundlichen Entgegenkommen von Herrn Christoph Müller, Berlin.

10  Fresko, 368 x 168 cm, entstanden 1527/28. Vgl. Luciano Berti: L'opera completa del Pontormo, Mailand 1973, Nr. 98;
Kurt W. Forster: Pontormo. Monographie mit kritischem Katalog, München 1966, S. 58-66; Fresken aus Florenz, Ausst. Kat.
Haus der Kunst München, München 1969, S. 220-225.

11  Zu Pontormos persönlicher und künstlerischer Annäherung an Michelangelo vgl. Forster 1966 (wie Anm. 10), S. 76-83.

12  Vgl. Andreas Henning und Gregor J. M. Weber: “Der himmelnde Blick”. Zur Geschichte eines Bildmotivs von Raffael
bis Rotari, Dresden 1998.

13  Vgl. Lothar Romain: Zur Plastik von Emil Cimiotti, in: Bergenthal/Stracke 2005 (wie Anm. 3), S. 89-93, hier S. 92.

14  Zu neuerlichen Zweifeln an der Identität des berühmten Steinmetzen vgl. Linda Seidel: Legends in limestone.
Lazarus, Gislebertus and the Cathedral of Autun, Chicago/London 1999.

15  Thorsten Droste: Burgund. Kernland des europäischen Mittelalters, München 2001, 2. überarbeitete Auflage 2006, S. 94.
Außerdem wichtig: Denis Grivot und George Zarnecki: Gislebertus. Sculpteur d'Autun, Paris 1960.

16  Geboren 1470/80 in Braunschweig; gestorben nach 1522 vermutlich in Annaberg.

17  Michael Brandt: Bernwards Tür. Schätze aus dem Dom zu Hildesheim, Regensburg 2010, S. 41 ff.

18  Ein charakteristisches Exemplar von 2002 findet sich ausgestellt in: Emil Cimiotti. Wege zur Vollendung. Eine Hommage
zum 85. Geburtstag, Galerie Ohse, Bremen, 23. Juni bis 4. August 2012.

19  Die Perspektive moderner Bildhauer auf mittelalterliche Plastik böte ein reiches Untersuchungsfeld. Man denke nur an Henri Laurens, Morice Lipsi, Gerhard Marcks, Hans Steinbrenner und Michael Croissant.

20  Bergenthal/Stracke 2005 (wie Anm. 3), Nrn. 109,110,111-113, 114 ff.

21  Bergenthal/Stracke 2005 (wie Anm. 3), Nrn. 118 und 119.

22  Freundliche Mitteilung des Künstlers vom 1.3.2012.

23  Helmut Börsch-Supan: Caspar David Friedrich. Gefühl als Gesetz, Berlin 2008, S. 178.

24  Diesen Ausdruck übernehme ich von Bernard Schultze, der ihn gern in Wort und Schrift verwandte.

25  Vgl. Johannes Grave: Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen, Weimar 2001. Das von Grave unter den
Auspizien des Sublimen herangezogene Gemälde «Die gescheiterte Hoffnung« von Caspar David Friedrich wäre ebenfalls
für die bei Cimiotti konstatierte 'Weite« ins Kalkül zu nehmen. Dass Cimiotti dieses Bild besonders schätzte, geht auch aus
einem anderen seiner Werktitel hervor: »Klippen, Bänke, Geschiebe« (2001), in: Bergenthal/Stracke 2005 (wie Anm. 3), Nr. 156.

26  Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Hamburg 1957, S. 24.

27  Diels 1957 (wie Anm. 26), S. 26-27, Fragmente 50 und 51.

28  Das Thema wird partiell behandelt in: Christa Lichtenstern: Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts,
Bd. 2: Vom Mythos zum Prozessdenken. Ovid-Rezeption - Surrealistische Ästhetik - Verwandlungsthematik der Nachkriegskunst, Weinheim 1992, S. 208 ff.

29  Uwe Rüth: Einige Gedanken zu Emil Cimiottis Plastik «Afrikanisch, später Gruß an Willi Baumeister«, in: Bergenthal/Stracke 2005 (wie Anm. 3), S. 251-252.

30  Rüth 2005 (wie Anm. 29), S. 251.

EC Chr Li No 03 a

Zellenwand (Hommage á Max Ernst), 1973
43 x 59 x 38 cm

EC Chr Li No 03 b

Nach Pontormo (Rignana-Folge), 1979
33.1 x 38.6 cm

EC Chr Li No 03 c

Figur (für Meister Gislebertus), 1984
206 x 85 x 85 cm
Dom St. Blasii, Braunschweig

EC Chr Li No 03 d

Große Düne (für C. D. Friedrich), 1992
35 x 196 x 190 cm
Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

EC Chr Li No 03 e

Für Heraklit (Strukturen), 2002
30,5 x 64 x 30 cm

Veröffentlicht in: Emil Cimiotti, “Den Raum ganz anders besetzen”, Gerhard-Marcks-Haus, Bremen 2012. ISBN: 978-3-924412-75-3


Prof. Dr. Christa Lichtenstern

* 1966-1976 Studium der Fächer Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Germanistik an den Universitäten Marburg,
   Frankfurt am Main, Heidelberg und Paris (Ecole des Hautes Etudes).
* 1976 Promotion in Frankfurt mit dem Thema „Ossip Zadkine. Der Bildhauer und seine Ikonographie“. Anschließend zweijähriger
   Werkvertrag am Städelmuseum, Frankfurt/M. Zur Neuerwerbung von Picassos Bronze „Tête de femme“ (1932) Kuratierung einer
   Studioausstellung mit Leihgaben aus dem In-und Ausland (1978). Dazu begleitende Vorträge zum Bildhauer Picasso und
   dazugehörige Museumspublikation.
* 1985-1986: Gastprofessuren in Gießen und Kassel.
* 1987: Berufung auf die C3-Professur, Kunstgeschichtliches Institut, Phillips Universität Marburg.
* 1996: Gastprofessur in Bloomington, USA.
* 1998-2008: C4-Professur an der Universität des Saarlandes (UdS), Kunstgeschichtliches Institut, Saarbrücken. Ordinariat.
* 2008: Emeritierung und Wechsel nach Berlin

(ausführliche Informationen: LINK)

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